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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1283–1285

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Rieger, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Gesundheit. Erkundungen zu einem menschenangemessenen Konzept.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 244 S. = Forum Theologische Literaturzeitung, 29. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-374-03172-6.

Rezensent:

Andreas von Heyl

Hans-Martin Rieger, Jahrgang 1966 und seit 2006 Privatdozent für Systematische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, bereichert in einer für Gesundheitsfragen hoch sensibilisierten Zeit mit seiner Studie die gegenwärtig in den Gesundheitswissenschaften geführte Diskussion über einen tragfähigen Gesundheitsbegriff um eine grundlegende und richtungsweisende Ab­handlung. Fraglos ist die Gesundheit längst zu einem »Zukunftsthema« und einem »Megatrend« geworden (9). Das 21. Jh. wird im Zeichen einer »Gesundheitsgesellschaft« stehen, die dadurch charakterisiert ist, »dass Gesundheit erstens als höchster Wert aufgefasst wird, dass Gesundheit zweitens zunehmend als machbar erscheint und dass die starke Nachfrage nach dem Gut »Gesundheit« drittens zu einem Wachstumsmotor neuer sozioökonomischer Strukturen gerade auch in alternden Gesellschaften wird. Die überaus starke Nachfrage nach dem Gut »Gesundheit« führt zu einem ständig zu­nehmenden Markt von Produkten und Dienstleistungen, die sich auf »Gesundheit« beziehen« (ebd.). Mit der zunehmenden Fixierung der Bevölkerung auf Gesundheitsfragen wächst freilich auch die Gefahr, dass sie »ein krankes Verhältnis zur Gesundheit« entwickelt, indem sie sich der Illusion hingibt, Gesundheit und Vitalität seien der Normalzustand des Menschseins, Gebrechlichkeit und Schwachheit die Ausnahme, die behoben werden kann und muss.
Im ersten Kapitel entfaltet R. das »ethische Spannungsfeld«, in dem sich das Gesundheitsthema heute präsentiert. Je stärker die Gesundheit aufgrund der »Erfolge medizinisch-technischer Machbarkeit« zu einem selbstverständlichen Konsumgut wird, desto mehr wird sie, im Vergleich zu früheren Generationen, die Krankheiten weitgehend als Widerfahrnis bzw. Schicksal erlebten, als »Machsal« verstanden (18). So erhebt sich gegenüber kranken Menschen schnell der Vorwurf, warum sie es geschehen ließen, dass sie krank geworden sind. Mit dem medizinischen Fortschritt wird die Forderung drängender, dass man nun auch zu machen habe, was machbar ist. Durch die permanente Erweiterung des Machbaren aber wird »die persönliche Umgangsfähigkeit des Menschen mit Nicht-Machbarem weitgehend vernachlässigt« (28), d. h. Fähigkeiten, über die frühere Generationen verfügten, nämlich das Ertragen von Beeinträchtigungen, das sich arrangieren mit schicksalhaften Widerfahrnissen, verkümmert. In der Gesundheitsgesellschaft fällt es den Menschen zunehmend schwer, »mit unheilbaren Störungen oder Krankheiten zu leben. Es fällt ihnen schwer, krank sein zu dürfen« (29) und Kranke fühlen sich entsprechend sozial stigmatisiert.
Das zweite Kapitel dient der inhaltlichen Bestimmung des Gesundheitsbegriffs. Dabei geht es R. um die Entwicklung einer »menschenangemessenen« Konzeption (45). Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie entgegen der gegenwärtigen Pathologisierung und Medikalisierung zum Menschen gehörender Wesenszüge wie Verletzlichkeit, Störanfälligkeit, Begrenztheit und Endlichkeit daran festhält, dass es ein Wesensmerkmal der Gesundheit ist, auch »mit abnehmenden Ressourcen, mit Krankheit und Leid leben zu können« (46). Vehement plädiert R. immer wieder dafür, Gesundheit »nicht lediglich unter der Leitvorstellung einer Funktionsfähigkeit des menschlichen Körpers, sondern auch und vor allem unter der Leitvorstellung einer Umgangsfähigkeit des Menschen mit dieser Funktionsfähigkeit (mit eingeschränkter oder gestörter Funktionsfähigkeit) zu betrachten« (48). Letzlich ist »Gesundheit in erster Linie als Fähigkeit und in zweiter Linie als Zustand« zu verstehen und zwar als »Kraft und Fähigkeit zum Menschsein« (53), zum Menschsein in all seiner Bedrohtheit, Verletzlichkeit und Begrenztheit.
Das dritte Kapitel thematisiert die Gesundheitsfrage »im Horizont anthropologischer Rahmenkonzepte«. Nach der Skizzierung von Menschenverständnis und Gesundheitsvorstellungen in Antike und Mittelalter – wobei R. die damalige Auffassung hervorhebt, dass ein Mensch zwar körperlich krank, aber geistig gesund sein kann und dass es »Gesunde« gibt, die in Wahrheit innerlich krank sind – beschreibt er die entscheidenden Umstellungen auf dem Weg zur modernen Medizin, insbesondere den Übergang zu einem mechanistischen Körpermodell, denen er dann die »Neuaufbrüche zu einer medizinischen Anthropologie« gegenüberstellt. Diese sind vor allem mit der sog. »Heidelberger Schule« und der Person Viktor von Weizsäckers verbunden. »Ausgangspunkt war die Einsicht, dass das naturwissenschaftlich orientierte pathophysiologische Denken zwar einen unverzichtbaren Bestandteil ärztlicher Technik und Kunst darstellt, sich damit aber die Person des kranken Menschen und die Wirklichkeit seines Krankseins nicht erfassen lässt« (69 f.). Von Weizsäcker sprach sich dezidiert für die »Einführung des Subjekts in die Pathologie und Medizin« aus (71) und vertrat die Auffassung, dass Krankheit nicht als pathologische Normabweichung zu verstehen ist, sondern wie die Gesundheit zum menschlichen Leben gehört (77). Nach einem Blick auf die »Ge­sundheit in der Daseinsanalytischen Beschreibung des Menschen« (82) und Gedanken zum Verhältnis von Gesundheit und »Normalität« des Menschen, präsentiert R. »Einsichten der Leibphänomenologie« (94 ff.) und das Menschenbild im Spiegel der Sa­lutogenese-Konzeption Antonovskys (106 ff.). Im letzten Ab­schnitt des dritten Kapitels geht es um »Leiblichkeit als Gabe und Aufgabe in einer theologisch-anthropologischen Sicht« (117 ff.). Hier lautet die Kernaussage: »Der Mensch darf Mensch sein – mit der ihm zukommenden Begrenztheit und Unvollkommenheit. Denn Gottes Zuwendung gilt nicht erst dem sich verwirklichenden Menschen, sie gilt dem wirklichen Menschen« (120).
Im vierten Kapitel entfaltet R. seine »Grundlinien eines menschenangemessenen Verständnisses« der Gesundheitsproblematik. Zusammengefasst lassen sie sich durch folgende Kernsätze skizzieren: »Sowohl Gesundheit als auch Krankheit gehören zur conditio humana und betreffen das ganze In-der-Welt-Sein des Menschen« (131). – »Menschen sind nicht entweder gesund oder krank, sie sind mehr oder weniger gesund oder krank. Selbst gesunde Menschen sind nicht ohne kranke Anteile und selbst schwer kranke Menschen sind nicht ohne gesunde Anteile« (138). – »Gesundheit be­steht in der Funktionsfähigkeit, ein Leben im Zustand eines dynamischen Gleichgewichts führen und auch angesichts von Belas­tungen bzw. Störungen aufrecht erhalten und wiederherstellen zu können. Gesundheit besteht gleichermaßen in der Umgangsfähigkeit mit lebensgeschichtlich sich verändernden Zuständen bzw. Stadien (z. B. Bewältigunsfähigkeit) und vor allem in der Umgangsfähigkeit mit den Selbsterfahrungen des leiblichen Menschseins (z. B. Widerfahrniskompetenz, Leidensfähigkeit). Beide Dimensionen gehören der Gesundheit als einer Kraft und Fähigkeit zum Menschsein zu« (147). – »Die Umgangsfähigkeit besteht […] nicht nur in der Fähigkeit, aus dem Vollen zu schöpfen, sie besteht auch in der Fähigkeit, abgeben zu können bzw. mit weniger Ressourcen sein Leben gestalten zu können. Das Freiwerden für die Möglichkeit des Abnehmens und schließlich des Sterbens befördert ein menschenangemessenes Gesundheitsbewusstsein« (167 f .).
»Das höchste und letzte Ziel gesundheitlichen Handelns ist nicht Gesundheit an sich, sondern die Ermöglichung individuell gelingenden Menschseins. Gesundheit ist für dieses gelingende Menschsein ein fundamentales Ermöglichungsgut. Sie ist aber keineswegs das einzige und sie ist keineswegs im strengen Sinne notwendig« (176).
Im fünften Kapitel wird das Modell eines menschenangemessenen Gesundheitsverständnisses präsentiert. Gesundheit und Krankheit sind demnach als ein Kontinuum zu verstehen, in dem sich der Mensch auf einer körperlichen, seelischen und sozialen Ebene bewegt. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen gesunden Kranken, gesunden Gesunden, kranken Kranken und kranken Gesunden. Der Grad an Gesundheit bemisst sich an der Verfügung über die Funktionsfähigkeit von Körper und Geist, vor allem aber an der Umgangsfähigkeit mit Beeinträchtigungen, der Grad der Krankheit an ihrem Fehlen. Zielpunkt des von R. vorgeschlagenen Gesundheitsmodells ist »die Befähigung, auch mit Funktionseinschränkungen und gegebenenfalls auch mit Schmerzen ein selbstverantwortetes und als gelingend zu bezeichnendes Leben führen zu können« (210).
Im letzten Kapitel bietet R. eine theologische Orientierung, in­dem er das Thema »Gesundheit vor und für Gott« entfaltet. Mit dem hier eingebrachten Begriff der »Gesundheitstranszendenz« (230) macht er noch einmal dezidiert deutlich, dass die Gesundheit nicht das höchste Gut im Leben ist. Es gilt zu unterscheiden zwischen Heil und Heilung. »Heil als das heilvolle Zusammensein mit Gott und Mitmenschen […] ist mehr als Heilung und Gesundheit. Heil kann auch bei ausbleibender Heilung und Gesundheit erfahren werden« (221). Unter Hinweis auf das erste Gebot hält er fest: »Abzuweisen ist eine Vergöttlichung des Menschen, eine Vergöttlichung seiner Gesundheit und seiner Langlebigkeit« (232). »Das höchste Gut des Menschen ist Gott, es ist näherhin das Zusammensein mit Gott, in welchem Gott als Gott geehrt wird« (233),
Das von R. vorgelegte Buch ist ein lesenswertes (wenngleich wegen des hohen akademischen Niveaus der Argumentation nicht immer leicht zu lesendes), wichtiges und weiterführendes Werk, das die Diskussion um einen tragfähigen, menschenangemessenen Gesundheitsbegriff nicht nur befruchten, sondern auch vertiefen wird. Es erscheint zum richtigen Zeitpunkt und kann einer sich mehr und mehr der Ideologie, man könnte auch sagen dem Götzen der »Gesundheit« ausliefernden Gesellschaft den Blick für die Realitäten des Lebens und die conditio humana zurechtrücken. Ge­sundheit ist nach wie vor ein zerbrechliches Gut. Wir sind verletzlich, gefährdet und vor allem endlich. Auch wer sein Leben noch so sehr er- und behalten will, wird es am Ende verlieren. Gesundheit ist eben nicht alles, aber ohne Gesundheit ist auch nicht alles nichts, um das bekannte Bonmot von Schopenhauer zu modifizieren. Es gibt höhere Güter als die Gesundheit und ein Leben mit Funktionseinschränkungen ist und bleibt lebenswert. Im hier präsentierten Gesundheitsentwurf des Theologen Rieger ist zwar ex­plizit wenig von theologischen Sachverhalten und Einsichten die Rede, aber die Studie als solche zeichnet sich durch eine hohe theologische Qualität und eine deutlich spürbare Affinität zu Gesundheitsvorstellungen der Bibel und des christlichen Glaubens aus. Aufgrund der beeindruckenden Fülle von Querverweisen erhält der Käufer mit diesem Buch zugleich ein Kompendium der aktu­-ellen grundbegrifflichen Diskussion in den Gesundheitswissenschaften.