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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1279–1283

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Heimbrock, Hans-Günter, u. Trygve Wyller [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Den Anderen wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln. Unter Mitarbeit v. P. Meyer.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010. 245 S. Kart. EUR 44,99. ISBN 978-3-525-57008-1.

Rezensent:

Ralf Hoburg

In seinem exegetischen Grundlagenbeitrag zur Neufassung der Erzählung des barmherzigen Samariters forderte der Neutestamentler Gerd Theißen bereits vor vielen Jahren die Theologie zu Folgendem auf: »Theologie ist m. E. verpflichtet, eine Theorie des Helfens zu entwickeln.« (Zitiert nach G. Theißen, Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimationskrise des Helfens und der barmherzige Samariter, in: Volker Herrmann/Martin Horstmann [Hrsg.], Studienbuch Diakonik Bd. 1, Neukirchen-Vluyn 2006, 89.) Zu dieser Theorie des Helfens gehört sicherlich auch und grundlegend die Reflexion über eine professionelle Berufsethik, die im Sinne der neueren sozialdiakonischen Diskussion soziales Handeln als symmetrisch verstandene Hilfe fasst und damit den »Nächsten« als den »Anderen« zum Ausgangspunkt des eigenen professionellen be­-rufs­ethischen Handelns macht.
Der vorliegende Sammelband, in dem die Herausgeber Hans-Günther Heimbrock und Trygve Wyller empirische Einzelstudien aus unterschiedlichen Professionen zum Thema sozialen Handelns zusammenfassen, befasst sich mit einer Professionstheorie auf dem Feld des helfenden Handelns. Dass heute überhaupt der Begriff des »Helfens« trotz oder gerade wegen seiner hermeneutischen Vorbelastung im Kontext Sozialer Arbeit wieder intensiver von der Theologie diskutiert wird, ist eine beachtliche Tatsache und eröffnet ein notwendiges und wichtiges interdisziplinäres Gespräch zwischen den Humanwissenschaften und der Theologie. Insofern ist diese Sammlung von Fallstudien und Theorieansätzen eine sinnvolle und sehr begrüßenswerte Initiative, die wertvolles Datenmaterial präsentiert, denn sie bietet eine von verschiedenen notwendigen Grundlagen für eine umfassende Theorie helfenden Handelns, gerade weil sie die Ebene der kommunikativen Interaktion zwischen Subjekten betrachtet. Den Prozess der Kommunikation zu fokussieren hilft, die Ebene der Symmetrie herzustellen und das Vorurteil kaschierter Machtprozesse zu entkräften. Dabei liegt der Ausgangspunkt eben in der Wahrnehmung des Anderen vom eigenen Standpunkt aus.
Die Basis der Beiträge liegt in ihrer empirischen Vorgehensweise, die sich konsequent auf den Bahnen einer qualitativen Sozialforschung bewegt, deren heuristisches Ziel »das Verstehen der Subjekte« darstellt (25). Ausgegangen wird von der Theorie der Phänomenologie in der Tradition E. Husserls und dafür der Begriff »Sozialphänomenologie« eingeführt (32). Es geht darum, die »Zeichen von Verhalten ›lesen‹ zu können und emotionale Elemente wie Wünsche oder Ängste wahrzunehmen und zu interpretieren« (27), um im Interesse eines respektvollen beruflichen Handelns die »Dimensionen von grundlegender ethischer Relevanz« für die soziale Praxis aufzudecken (33). Zurückgegriffen wird dabei auf gelebte Erfahrungen in Begegnungssituationen, d. h. auf situative Erfahrungen. An dieser Stelle setzen die Herausgeber Hans-Günter Heimbrock und Trygve Wyller ihre – in diesem Band von anderen Autorinnen und Autoren durch ihre Beiträge mit flankierten – empirischen Studien und Überlegungen »gelebter Erfahrungen« aus den vergangenen Jahren konsequent fort, denn gelebte Situationserfahrungen helfen, die interpersonale Dynamik von Erfahrung bewusst zu machen. Bezogen auf das Feld sozialen Handelns bzw. allgemeiner sozialer Intervention geht es darum, die »Wahrnehmung professionellen Handelns durch gelebte Erfahrung mit dem Interesse, professionelles Handeln adäquat zu formen« (39). Die leitende Forschungsfrage lautet: Was ist angemessenes ethisches Handeln in der Situation professionellen Helfens?
Vor diesem Hintergrund und einer in den letzten Jahren gestiegenen ethischen Anforderung in helfenden und pflegenden Berufen und auch einem vermuteten Paradigmenwechsel im ethischen Denken entwickelt der Sammelband ein »Bewusstsein für diejenigen ›ethischen Forderungen‹ […], die direkt aus den Begegnungen mit anderen und ihren Kontexten herrühren« (12). Von dieser Grundlegung aus soll ein Ansatz von Ethik entwickelt werden, der »die Bedeutsamkeit des Beziehungscharakters professionellen Handelns in Feldern sozialer Berufe« in den Mittelpunkt stellt (15). Hierbei werden die Interessens- und Motivlagen des »Anderen« in der entstehenden Beziehung in den Blick genommen. Die Wahrnehmung des Anderen basiert letztlich auf der Anerkennung des Anderen (21), was dann im Verlauf des gesamten Bandes als Haltung des Respektes beschrieben wird. Auf den »Anderen« als den Partner in der sozialen Beziehung und als Handlungspartner richten sich die präsentierten Studien, die von den Herausgebern zusammengeführt wurden. Die Kernfrage des Bandes lautet: Wo ist die ethische »Quelle in der Beziehung und in der Rolle des spezifisch Anderen zu suchen« (16)?
Im grundlegenden zweiten Teil des Bandes werden verschiedene Fallstudien präsentiert – wie etwa zur Ethik in der Sterbebegleitung, zur pathischen Dimension der Lehrerprofessionalität, zur Stadtmission und zur Arbeit in Flüchtlingsunterkünften sowie drei Grundlagentexte zu »Leib«, »Raum« und »Sprache«. Die Methodologie reicht hierbei von der Feldbeobachtung (Hospiz) bis zum qualitativen Interview, wobei die Ergebnisse in Bezug auf die ethische Fragestellung aus meiner Sicht recht heterogen sind.
Wie ethisches Verhalten »vom Anderen aus« etwa in der hochsensiblen Begleitsituation in einem Sterbehospiz zu entwickeln ist, bleibt in dem Beitrag von Lisbeth Thoresen unklar. Welche ethischen Implikationen stecken im Begriff der »Präsenz«, den die Autorin am Ende ihrer Überlegungen einführt (64)? Die Diskussion vor dem Hintergrund des Begriffes der Lebenswelt erscheint mir in der situativen Begegnung angesichts des Todes, die immer etwas sehr Intimes aufweist, zu konturenlos. Denn dass der Andere eine Person ist, »mit der ich einige gemeinsame menschliche Bedingungen teile« (65), kann ja nur der Anfang für eine dann noch zu entwickelnde Ethik oder besser ethische Haltung sein, die zwischen mir und dem Anderen eine Ethik des Respektes entwickelt. Insgesamt fehlt mir in der theoretischen Begründungsarbeit der Verweis auf die Theorie der Anerkennung, wie sie etwa Axel Honneth vertritt.
In eine ähnliche Richtung, nämlich die der Fokussierung auf eine exemplarische Begegnung zwischen einer Lehrerin und einem Schüler, geht der Beitrag von Silke Leonhard, der die Dialektik von pathischer Erfahrung und respektvollem Verhalten erarbeiten will. Am Beginn der Überlegungen steht hier die Klärung der eigenen Rolle und Person als Forscherin. Auch hier steht die teilnehmende Beobachtung als Methode im Vordergrund, von der aus der situative Rahmen einer ethischen Anforderung professionellen sozialen Handelns beschrieben wird. Die Darstellung der Situation erhält in diesem Beitrag einen großen Raum (68–75), um den »empathischen« Charakter der Schüler-Lehrerinnen-Beziehung zu be­schreiben. Es geht ihr in der Schilderung dieser Fall-Beziehung um »leidenschaftliche Betroffenheit« im pädagogischen Prozess des Unterrichtes. Die zuhörende Kommunikation bildet hierbei den professionellen Rahmen, um vom »Anderen« aus zu denken. Im Rahmen des pädagogischen Handelns zeigt nach Ansicht der Autorin die Fallstudie, dass »Krankheit als Notlage an der Schule« ernst genommen werden muss (85). Eine berufsbezogene Ethik im Feld der Schule zielt auf »Respekt für eine lebendige Sozialität« (86). Hierin kann letztlich der Ertrag des Beitrages im Rahmen einer Theorie berufsbezogener Ethik gesehen werden. Aber muss nicht ethisches Handeln im professionellen Kontext dann auch die Frage implizieren, welche Haltung der Partner des Anderen in diesem kommunikativen Prozess dem Tod bzw. Sterben gegenüber einnimmt? Besteht ethische Professionalität nicht gerade auch darin, im Spiegel des anderen sich der eigenen Positionalität klar zu werden und dies im ethischen Handeln zu berücksichtigen? Der Andere wird dann auch zum Spiegel meiner selbst – ein Aspekt, der in der Untersuchung unterbelichtet bleibt.
Einen ganz anderen Bereich einer professionellen Ethik bearbeitet die Studie von Solveig Botnen Eide zum Themenfeld kommunikativer Prozesse im Kontakt zwischen Sozialarbeitern und Klienten, wobei von einem spezifischen Professionsbegriff ausgegangen wird. Die Studie fragt nach der »Zone mit durchlässigen und sich verschiebenden Grenzen« (92). Es geht um den angemessenen ethischen Fortschritt in einer Kommunikation mit benachteiligten Kindern. Im Zentrum der Studie steht die Analyse von Kommunikationspro-zessen. In der Kommunikation sind Sozialarbeiter und Kinder über ein Thema verbunden und das Ziel nicht vereinnahmender Kommunikation liegt in der Herstellung von Teilhabe.
Die Durchsicht der Einzelstudien im Rahmen des Bandes zeigt immer den Analyse- und Interpretationsprozess aus einer phänomenologischen Betrachtung des Datenmaterials und seiner Interpretation. Aus Sicht des Rezensenten bleibt in der Summe der Einzelbeiträge das Gesamtziel der Dimension ethischer Relevanz für die Praxis im Rahmen der qualitativen Datenanalyse zumindest in Teilen auf der Strecke. Der Rücktransfer der empirisch gewonnenen Daten in eine ethische Theoriebildung bleibt oftmals offen. Vom Konzept bleiben in der Summe vielfach nur Forderungen wie die in dem Beitrag von Ingvil Lønning: »Ein phänomenologisches Verständnis der Welt und der Subjekte kann uns helfen, das Ethische auf andere Weise zu sehen als durch einen sozialwissenschaftlich empirischen und theoretischen Ansatz« (126). Aber wie sehe ich das Ethische auf andere Weise genau? Dies evident und schlüssig aus den versammelten Einzelstudien aufzuzeigen, bleibt der Band aufs Ganze gesehen schuldig. Eine Ontologie der Andersheit haben eigentlich bereits die wegweisende Ich-Du Philosophie Martin Bubers oder auch die Werke von Emmanuel Levinas aufgezeigt. Wie diese Kategorie auf die Ethik anzuwenden ist, kommt mir neben den beschreibenden Passagen zu wenig zum Zuge.
Verdienstvoll ist es indes, die Perspektive, die Dimensionen von Raum, Leib und Sprache in die Diskussion um ein professionelles ethisches Handeln eingebracht zu haben. Hier entdeckt der aufmerksame Leser interessante Beobachtungen. So leuchtet ein, dass bei der Reflexion von Räumen aus der Perspektive von Anderen auf Atmosphären und Raumplatzierungen zu achten ist ebenso wie auf die implizite Anwesenheit des Heiligen (146). Hier erhält im Beitrag von Kerstin Söderblom zumindest indirekt die alte Idee einer interkulturellen Theologie des Schweizer Theologen Walter Hollenweger aus den 1980er Jahren, die schon fast vergessen zu sein scheint, in der Zitat-Überschrift der »Leibhafte[n] Theologie« eine späte Würdigung. Vom Standpunkt der Begegnung aus wird der »Augenblick zu einem wechselseitigen Ritual« (147), der sich in Zeit und Raum und somit leibhaft ereignet. Im Rahmen von Seelsorge wird Kommunikation eine »komplexe intersubjektive Handlung« (151).
Was ist nun der Gesamtertrag des Bandes? Hierzu nimmt das letzte Kapitel Stellung, das von den Herausgebern gemeinsam formuliert wurde und sich um das Feld der Praxis-Forschung mit ihren Konsequenzen und Perspektiven dreht. Die Herausgeber benennen nochmals die Aufgabe: normative Ansprüche in Begegnungssituationen aufzudecken und zu eruieren, wie aus der Sicht des professionell Handelnden dem Anderen gegenüber eine ethische Haltung entwickelt werden kann. Den Schlüsselbegriff hierzu finden sie in dem Begriff Respekt. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass es in allen Begegnungssituationen um Wechselwirkungen geht, die als intersubjektives Feld dargestellt wurden.
Der spezifisch ethische Ertrag der Untersuchungen wird von T. Wyller in der Erkenntnis gesehen, dass das ethische Urteilsvermögen in der Verbundenheit gesehen wird, die zwischen dem professionell Handelnden und dem anderen Subjekt im Faktum der gemeinsamen Lebenswelt liegt (213). Hier glaube ich indes, dass die normative Bedeutung einer »gleichen« Lebenswelt das Faktum biographischer und milieuspezifischer Verschiedenheit in der Betrachtung nicht ausreichend würdigt und das Faktum Lebenswelt für die Entwicklung einer Professionsethik überschätzt wird. Aus meiner Sicht ist die Lebenswelt eben nicht homogen, sondern biographisch und kulturell heterogen. Kritikpunkte an ihrem An­satz nehmen die Herausgeber implizit auf, so wenn Wyller einen Mangel an Konsistenz dieser Professionsethik einräumt (215). Das Ziel indes bleibt klar, nämlich dass die Normativität begründet wird, indem »Phänomene und Lebenswelt in unsere ethischen Grundlagen« integriert werden (215). Auf die methodologische Seite des Themas geht dann Peter Meyer ein, indem er die Forderung stellt, dass »normative Ausrichtungen […] als soziale Tatsachen empirisch erforscht werden« können (216). Allein dies stellt aus meiner Sicht seit den Forschungen zum moralischen Urteilen etwa von Elisabeth Nunner-Winkler oder des Philosophen Detlev Horster keine neuen Erkenntnisse im ethischen Begründungsprozess dar. Der Bezug auf »gelebte Erfahrungen« indes, der die empirische Basis des Bandes darstellt, ist allerdings durchaus geeignet, eine Ethik der Profession, die vom Anderen her denkt, nicht neu, aber anders zu begründen. Hier ist der Band in der Tat spannend, sofern es denn gelingt, in das Professionshandeln die ethische Rückkoppelung vom »Du« zum handelnden Subjekt und dann wieder zurück in professionelles ethisches Handeln zu transformieren.
Die Basis von einer postuliert geteilten Lebenswelt und die normative Ebene des Respektes reichen aber aus meiner Sicht nicht aus. Vielmehr bedarf eine ethische Urteilsbildung der Profession auch ein ethisches Lernen von der Erfahrung des Anderen aus, die impliziert, dass ethische Urteile kontext- und subjektabhängig sind und als »Reflexivprozess« wieder in ethisches Handeln fließen. Dennoch bleibt der Band eine sehr lohnenswerte Studie auf dem Feld eines sozialen Professionshandelns und es ist zu wünschen, dass die Arbeit weit über einen religionswissenschaftlichen bzw. theologischen Leserkreis hinaus auch im Bereich der Ethik in der Sozialen Arbeit rezipiert wird. Wichtig scheinen mir insgesamt die Überlegungen zum Thema »Wahrnehmung des Anderen« zu sein, die die heuristische Basis eines neuen Theoriekonzeptes in der Ethik des Sozialen als einer neu zu entwickelnden Theorie des Helfens werden kann.