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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1272–1275

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wabel, Thomas

Titel/Untertitel:

Die nahe ferne Kirche. Studien zu einer protes­tantischen Ekklesiologie in kulturhermeneutischer Perspektive.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XVII, 570 S. = Religion in Philo­-sophy and Theology, 50. Kart. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-150369-6.

Rezensent:

Stephan Schaede

Dieses ambitioniert konzipierte Buch von Thomas Wabel versteht sich als kulturhermeneutische Rekonstruktion eines adäquaten gegenwärtigen Zugangs zu zentralen ekklesiologischen Herausforderungen. Diese Intention macht es zu einem der einschlägigen ekklesiologischen Titel dieser Tage. Das Buch ist in der Überzeugung verfasst, dass im Sinne einer »Erfahrung von Ferne in der Nähe« ein »Distanzgewinn […] für die Selbstbesinnung von Kirche […] unabdingbar« sei (1). Methodisch sorgt für die heilsame Ferne und den produktiven Distanzgewinn nun eben der vom Vf. gewählte kulturhermeneutische Zugriff. Zugleich wird vorausgesetzt, dass sich Kirche und Kultur nicht einfach gegenüberstehen, sondern wechselseitig »kontextualisieren« müssen (5–10). Kaum überraschend ist dann, dass der Vf. als prekär identifiziert, wie sich die religiöse Zugehörigkeit als »Teppich unterschiedlicher […] überlagernder Muster und Strukturen« pluralisiert habe (10). Dabei bleiben die Kirchen zwar »Bezugsgrößen der Herausbildung einer je eigenen religiösen Zugehörigkeit« (11), können aber bekanntermaßen von der »Wiederkehr des Religiösen« nicht profitieren, weil sich »Glaube und Kirchenbindung voneinander entkoppeln« (12). Das ist das eine. Das andere ist: Die »binären Oppositionen von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von »innerhalb« und »außerhalb« der Kirche« werden beständig infrage gestellt (13). Mitgliedschaft ist nicht mehr so eindeutig binär kodiert, wie es das Kirchenrecht gerne hätte. Sie vollzieht sich in einer unübersichtlichen Vielzahl von Formen von der Kerngemeinde bis zu einem Chris­tentum, das von sich behauptet, ihm sei das, was Kirche ist, völlig fremd. Der Vf. schlägt deshalb vor, von »Transformationen des Christlichen« zu sprechen, und kündigt an, »diese Umformungsprozesse und ihren Bezug auf das, was als genuin christlich soll gelten können, nachzuzeichnen« (16 f.). Dafür müsse sich die »dogmatische Selbstreflexion des christlichen Glaubens immer wieder neu der Labilisierung durch empirische Ergebnisse« aussetzen (17 f.). Das bedeute für die Systematische Theologie, dass sie sich durch die Ergebnisse religionssoziologischer und praktisch-theologischer Arbeit herausfordern lässt (18). Außerdem sei in Rechnung zu stellen, dass »Identität durch Ausgrenzung erzeugt« werde und »Verständigung über das Eigene stets auch Erfahrung von Fremdheit« induziere, dadurch wiederum »ingroups […] für Wahrnehmungen von außen zugänglich« zu halten seien (27). Zu fragen sei dann nach dem spezifischen Beitrag der »christlich-religiöse[n] Sprach- und Symbolwelt« (27). Diese Frage soll durch Rückgriff »außertheolo-gische[r] Theorieansätze« inspiriert werden. Die Inspirationsquellen, die der Vf. wählt, überraschen kaum und zählen zu den üb-lichen Verdächtigen kulturtheoretischer Referenzen unserer Tage. Der Vf. bezieht sich erstens auf die auf Maurice Halbwachs zurück­gehende Rede vom kollektiven und kulturellen Gedächtnis (28), zweitens auf Ernst Cassirers symboltheoretisch entwickelte Kulturtheorie (29), drittens auf Bernhard Waldenfels’ Überlegungen zum Fremdverstehen (30), viertens auf Niklas Luhmanns Differenzbestimmungen von Inklusion und Exklusion (32), fünftens auf eine »Lektüre der dritten Kritik« Immanuel Kants sowie schließlich sechstens auf »Cornelius Castoridiadis’ Überlegungen zur imaginären Institution der Gesellschaft« (33).
Einer genaueren Analyse dieser Inspirationsquellen in den Teilen drei bis vier seines Buches schickt der Vf. in einem ersten Teil voraus, was er unter Religion und Kultur versteht (39–76). Dabei ist für ihn einschlägig, dass Religion am Ort von Kommunikation ihren Sitz im Leben hat, und zwar so, dass sich jemand selbst deutet, dies erlebt und artikuliert. Kultur wiederum versteht er »heuristisch« als »zeichenhaft verfasstes […], stets mit Prozessen der Selbst- und Fremdabgrenzung […] verbundenes diskursives Gefüge […], das die Erstellung, Bearbeitung und Transformation von Ordnung […] ermöglicht« (34; vgl. 63–75). Mit dem so verstandenen Kulturbegriff kann er Kirche als eine »Trägerinstanz kultureller Sinngebungsprozesse« beschreiben.
Ein zweiter Teil interpretiert, und hier beginnt die detailreiche Analyse der oben genannten nichttheologischen Inspirationsquellen, Ernst Cassirers Kulturphilosophie (77–178). Diese Interpretation teilt das Schicksal aller folgenden Werkinterpretationen. Sie zeugen von akribischer Werkkenntnis. Die vorzügliche Qualität der Deutungsleistung steht außer Frage. Allerdings leiden diese Deutungen unter einer nicht eben zielstrebigen Ausführlichkeit. Auch wird nicht hinreichend klar, inwiefern diese Analysen über die bereits vorliegenden und vom Vf. gründlich herangezogenen neueren Werkinterpretationen hinausführen. Wozu muss dies al­les notiert werden, wenn es doch um eine Erschließung kulturhermeneutischer Zugänge zur Kirche gehen soll. Stark erschwert wird die Lektüre durch die Neigung des Vf.s, den Leser durch komplexe Zitatenkonvolute zu schleusen, die mit allerlei hochinformierten Querbezügen zu Sekundärliteratur und klassischen Positionen angereichert sind, deren guter Sinn sich nicht immer erschließt. Bei alledem wird aber dennoch hinreichend deutlich, dass Cassirer »die fragile Sozialität nicht« wahrnimmt, »innerhalb derer sich Religion vollzieht (116–138). Indem Cassirer Religion unterschätzt, weil er ihr nur die Aufgabe zuweist, über die Bildwelt des Mythos hinaus aufzuklären, wird Religion für ihn lediglich zu einem Durchgangsstadium für den Geist, der sich selbst befreit. »Ein Element unverdienter Gnade vermag dieser Ansatz nicht zu erfassen.« (34.138–151) Damit verweist aber Cassirers Œuvre selbst über sich hinaus. Genau das ist die Systemstelle, an der der Vf. die Relevanz dieser Konzeption für das Verständnis von Religion, nicht aber schon von Kirche erfragt. Der Leser muss als Interessent für ek­klesiologische Kernfragen also einen langen Atem haben. Die Prägnanz des Symbolischen in ihrem Formenreichtum vermag niemals den sie konstituierenden Strom des Lebens und der Gedanken zu erfassen. Dieser Strom formt das Symbolische und stellt es zugleich infrage. Das aber ist in den Augen des Vf.s lehrreich für ein mögliches Selbstverständnis der Kirche. Jede »Prägnanzbildung […] innerhalb der Situation des religiösen Pluralismus« gewinnt »ihre Überzeugungskraft aus ihrer inneren Regelhaftigkeit« (152–178). Diese Regelhaftigkeit vermag sich jedoch niemals selbst zu genügen, sondern verweist auf ein über sie hinausgehendes Ungeregeltes.
Das wird für Bernhard Waldenfels zentral, dessen Phänomenologie des Fremden der Vf. in einem dritten Teil ausarbeitet. Als Fremdes wird Außerordentliches erfahrbar, was zur Übersteigung der Ordnung nötigt (179–306). Harmonieverliebter Ordnungsfetischismus gerät so unter den Verdacht, für Überschießendes keinen Sinn zu haben (179–191). So wird vermeintlich Gemeinsames aufzusuchen religiös unproduktiv, die Anerkennung von unhintergehbaren Differenzen hingegen ekklesiologisch zukunftsweisend (192–232). Es bedarf dabei allerdings einer klugen Anerkennung, die auf dem Wege der »responsiven Differenz« auf das Fremde in der eigenen Ordnung produktiv reagiert. Damit wird das, was innerhalb der eigenen Ordnung vorgefunden wird, produktiv verunsichernd überstiegen und so ein »Zwischenraum der Verständigung« erschlossen (233–268). Der Vf. wertet diese Leistung der Phänome nologie für die Verhältnisbestimmung von Religionssoziologie, Systematischer und Praktischer Theologie aus (268–306). Dabei macht er auf eine in der Zweideutigkeit der Husserlschen Bestimmung der »Lebenswelt« selbst angelegte Verschiebung des Verständnisses von Phänomenologie aufmerksam. Die vom Vf. vor­-getragene Analyse der Lebensweltbestimmung macht Lust auf kri­tische Rückfragen.
Dass sie die Pointe Husserls trifft, darf mit einem Verweis auf Husserls Cartesische Meditationen, in denen er sich mit Heidegger kritisch auseinandersetzt, bezweifelt werden. Sicher richtig ist aber, dass das, was in praktisch-theolo-gischer Ambition als »unmittelbarer« Zugang zur gelebten Religion ausgelobt wird, sich einer Gleichsetzung von Alltagswelt und Lebenswelt verdankt, die die transzendentale prinzipielle Vermitteltheit von Lebenswelt verkennt, an der Husserl so sehr lag. Die Aufgabe ist deshalb für die Praktische wie für die Systematische Theologie, Phänomenologie und empirische Sozialwissenschaften so aufeinander zu beziehen, dass es zu einer methodisch kontrollierten Bearbeitung von Differenzerfahrungen kommt (283). Das läuft auf die ebenso geistreichen wie sich ohne weitere Erläuterung schwer erschließenden Be­hauptungen zu, Erlebtes unterscheide sich für den Befragten von Erfahrenem. Die »begegnende fremde Sprachgestalt« stehe für den Befragenden zur »eigenen verstehenden Reformulierung« im Verhältnis einer »responsiven Dif­-ferenz« (283 f.). Die Theologie muss dabei das »fruchtbare Wechselspiel […] traditioneller Sprachformen und gegenwärtiger Artikulationsformen des Glaubens« nutzen. Dies führt protestantisch gewendet zu einer »fortgesetzten Labilisierung des Eigenen durch das Fremde, wie sie das Verständnis der Rechtfertigung des Menschen extra se beinhaltet« (306). Darin liegt nun die eigentliche »kulturelle Relevanz des Christlichen«. Sie besteht, und diese Einsicht sollte öffentliche Theologie viel stärker beherzigen, gerade nicht in leerlaufenden Appellen an Toleranz und Nächstenliebe. Vielmehr ist kulturell relevant die »religiöse Bearbeitung von Ausgrenzungsmechanismen«, die mit »Identitätsstabilisierung« und »Selbstabgrenzung« zwangsläufig zusammenhängen. Die Rechtfertigungslehre deckt hier auf, dass die weltliche Anerkennungskultur »heilvoll entlaste[n]« kann, »alles« von Gott zu erwarten (306). Was lehrt das für die Frage der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zur Kirche? Unmittelbar lehrt das noch nichts, denn der Vf. will die Relevanz der Waldenfelsschen Theoriebildung für Religion überhaupt ausarbeiten.
Im vierten Teil wird nun endlich die ekklesiologische Bedeutsamkeit des bisher Entwickelten entfaltet. Hier entscheident sich, ob und in welcher Weise – und das ist eine in der Tat zentrale und nicht leicht zu beantwortende Frage – sich Kirche auf Religion im bisher analysierten Sinn bezieht. Was hier über die Topoi des Fremden, Anderen, Überschießenden hinaus für die weitere ge­dankliche Entwicklung einschlägig werden könnte, bleibt undeutlich. Der Leser wird mit immer neuen Theoriebildungen hingehalten, statt mit dem Vf. die ekklesiologischen Früchte der Analysen von Cassirer und Waldenfels ernten zu können.
So ist es womöglich bezeichnend, dass der Vf. im Zuge der Überschrift »Imagination und Institution« reichlich nachklappend Kants »reflektierte Urteilskraft« aus dessen dritter Kritik aufruft, um zu ergänzen, was Cassirer übersehen und Waldenfels nicht explizit angesprochen hat. Zur Leitfrage wird hier, unter welchen Bedingungen individuelle religiöse Überzeugungen Anspruch auf Allgemeinheit erheben können. Der Vf. erarbeitet in Auseinandersetzung mit Eilert Herms’ Modell von Gesellschaft und Kirche ein »Verständnis von Intersubjektivität […], das sich auf je partikulare Traditionen gründet und gleichwohl gesamtgesellschaftliche Relevanz« beanspruchen kann (309–342). Sodann führen »Reflexionen auf die Grenzen kirchlicher Zugehörigkeit […] in zentrale Momente theologischer Selbstdefinition von Kirche« hinein (343–380). Die materialdogmatische Spannung steigt an dieser Stelle, denn der Vf. stellt sich unter kritischer Diskussion von Michael Welkers Luhmannrezeption die Frage, wie diesen Momenten der Selbstdefinition von Kirche pneumatologisch und christologisch die rechte Fassung gegeben werden kann. Bezeichnenderweise laufen diese Selbstdefinitionsversuche unter dem Stichwort »Identität der Kirche«. Die daran anschließende Untersuchung der Kirche als Institution ist damit intim verflochten. Der »Aspekt der Kirche als Institution und als Organisation« (380–428) ist nämlich, wie der Vf. betont, der »Kirche als einer theologischen Größe gegenüber nicht sekundär« (37). Innerweltliche Repräsentationen verkörpern notwendigerweise die geistliche Größe der Kirche als Versammlung von Wort und Sakrament, als Ritus, in ihrer Ordnung, aber auch in ihren Gebäuden. Der Vf. schlägt hier vor, Davies Konzept einer »vicarious religion« durch das Konzept einer »representational religion« zu präzisieren, was konstruktiven Widerspruch provozieren mag, dürfte doch selbst das Repräsentationskonzept im Zusam­menhang protestantischer Ekklesiologien aus gutem Grund eine theologisch problematische Bestimmung sein und bleiben. Es ist faszinierend, wie hier der Vf. – und diese Passagen gehören zum Stärksten des Bu­che s– die bei Waldenfels und Cassirer gewonnenen Einsichten mit Castidoriadis’ Rede von der Gesellschaft als imaginärer Institution, die er ekklesiologisch wendet, und dem ek­klesiologischen Gassenhauer der Rede vom kulturellen Gedächtnis miteinander verwebt. Nun kann der Vf. für ein Verständnis von Kirche als »Zwischenraum der Kommunikation« werben. Da sei Raum, um im Gespräch mit Wolfgang Hubers Ekklesiologie für »nicht realisierte Möglichkeiten«, für über »gegebene Ordnungen« und »vorhandene Symbolisierungen« Hinausweisendes, das Kirche als Öffentlichkeit konstituiere, zu werben. So würden Übergänge ris­kant, entstünde Neues. Zugleich würde Bestehendes »labilisiert« und Identität gewönne synkretistische Züge (428–469). Eigenes schließlich, das konkretisiert der Vf. für die Kirche als Organisation, sei auf das Andere angewiesen, um als Eigenes formuliert werden zu können (470–502). Diese schon in der antiken Logik formulierte Einsicht wird unter Sichtung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen so entfaltet, dass zugleich der Gewinn eines kulturhermeneutischen Verständnisses von Kirche aufscheint.
So gibt dieses komplexe Opus, das sich die überaus ambitionierte Aufgabe gestellt hat, einerseits das Verhältnis von Alltagserfahrung und religiöser Erfahrung und andererseits das Verhältnis von soziologischer und kulturhermeneutischer Religionsdeutung für eine systematisch-theologisch schlüssige Beschreibung der Kirche fruchtbar zu machen, für die weitere Arbeit am Topos Ekklesiologie in einer Weise zu denken, die die Lektüre dringlich macht.