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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

532–534

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bekker, Balthasar:

Titel/Untertitel:

Die bezauberte Welt (1693). 2 Bände. Mit einer Einleitung hrsg. von Wiep van Bunge.

Verlag:

Stuttgart: Frommann 1997. 1036 S. 8 = Freidenker der europäischen Aufklärung, Abt. I, Texte, 7,1 u. 2. Lw. DM 560,-. ISBN 3-7728-1617-7.

Rezensent:

Walter Sparn

Manche Theologen glauben, über das "Projekt Aufklärung" die Nase rümpfen zu sollen, ohne die historische Epoche "Aufklärung" auch nur einigermaßen kennen zu müssen; für solche Leute sollte dieses Buch zur Pflichtlektüre gemacht werden. Es führt wie wenige Dokumente vor Augen, was die frühe Aufklärung in concreto wollte - und was sie erreicht hat, zum Besten auch für die christlichen Kirchen (wenn auch nicht ohne theologischen Preis): die Entmächtigung des mißbräuchlichen und mißbrauchten Dämonen- und Teufelglaubens. De betoverde Weereld, 1691 (Bücher 1 und 2) und 1693 (Bücher 3 und 4) gedruckt, hat auch in den Niederlanden Furore gemacht; aber hier gab es längst keine Hexenprozesse mehr. Anders in Deutschland, wo B.s Initiative nicht nur die theologische, philosophische und juristische Diskussion im Übergang zum 18. Jh. voranbrachte, sondern auch den praktischen, vor allem pastoralen und politischen Umgang mit der vermeintlichen Hexerei veränderte: Den schrecklichen Folgen des Dämonen- und Teufelsglaubens wurde allmählich die Rechtfertigung, zumal ihre scheinbar christliche Legitimation entzogen.

In der Tat hat B.s Werk speziell die deutsche Aufklärung fast ein Jahrhundert lang begleitet. Die erste, anonyme Übersetzung von 1693 löste eine breite Diskussion aus: schiere Polemik gegen den adaemonista, zumal der (unsinnige) Vorwurf des spinozistischen Atheismus, aber auch die (mögliche) Ablehnung des B.schen Cartesianismus, sowie die (damals wie heute berechtigte) Kritik an B.s Bibelhermeneutik durch Theologen wie Philosophen; auch durch solche, die B.s Kritik des Hexenwahns unterstützten, wie P. Bayle, Chr. Thomasius (De crimine magiae 1701, dt. 1703) und besonders G. W. Leibniz. Diese Unterstützung mußte sich freilich sorgfältig vom Beifall gewisser Radikaler wie F. W. Stosch oder J. Chr. Edelmann absetzen.

So hat noch der junge G. E. Lessing auf dem Theater B. verteidigt und hat an einer eigenen (verschollenen) Übersetzung gearbeitet. Diese Erinnerung erwies sich bald als sinnvoll. Denn einerseits wurde B. in den "Freidenker"-Lexika der Jahrhundertmitte nicht mehr erwähnt, wurde also rehabilitiert, andererseits löste die Praxis, hier: die Besessenheitsvermutung bei Anna Elisabeth Lohmann aus dem Anhaltischen, in Deutschland noch einmal einen "Teufelsstreit" aus. An ihm beteiligten sich neben dem Hallenser Philosophen G. F. Meier und vielen anderen nicht zuletzt J. S. Semler mit der These, vom Teufel (dessen Existenz er wie B. für biblisch offenbart annahm) müsse wohl eine obsessio spiritualis, könne jedoch keine obsessio corporalis angenommen werden. Semler war es dann auch, der die dritte Übersetzung B.s durch J. M. Schwager, anregte und diese gekürzt, doch um aktuelle Fallbeispiele vermehrt publizierte (1781/1782).

Der Titel der ersten, nun nachgedruckten Übersetzung lautet: "Die Bezauberte Welt: Oder Eine gründliche Untersuchung des Allgemeinen Aberglaubens/Betreffend/die arth und das Vermögen/Gewalt und Wirckung Des Satans und der bösen Geister über den Menschen/Und was diese durch derselben Krafft und Gemeinschafft thun: So aus Natürlicher Vernunfft und H. Schrifft zu bewehren sich unternommen hat ...". In einer 40seitigen, dem abgeschlossenen Werk 1693 vorangestellten "generale(n) Vorrede" gibt B. einen methodisch sorgfältigen Überblick, in der Pespektive des "frey(en) Mann(es)", der sich keiner Schul- und Brotmeinung samt ihren Vorurteilen verpflichtet. Aufgrund der Nebenordnung von vorurteilsfreier Vernunft und ergänzender (sowie ganz anderes mitteilender) Schrift - leihen beide (die Vernunft und die sie voraussetzende Schrift) in aller Ehrerbietung einander die Hand als "freye Leute". Das erste Buch enthält eine programmatische Einleitung und eine historische Darstellung des Geister- und Dämonenglaubens und der damit verbundenen magischen Praktiken bei den Griechen, den Römern und den heidnischen Völkern Nordeuropas, Asiens, Afrikas und Amerikas; es schließt mit einer vergleichenden Untersuchung der Heiden, Juden, Mohammedaner und Christen: Je weiter man sich vom Heidentum bzw. vom Papsttum abgekehrt hat bzw. je besser man die Hl. Schrift versteht, desto weniger hängt man dem ursprünglich heidnischen Vorurteil der physischen Wirkmöglichkeit des Teufels und der Dämonen an.

Die systematische Begründung der historischen Sicht der Dinge gibt B. im zweiten Buch, das sich mit den Geistern und ihren Vermögen beschäftigt. Sie ist eine doppelte. Nach Herstellung sprachlicher Genauigkeit besagt die Begründung aus der unverblendeten natürlichen Vernunft, daß immaterielle Substanzen wie die vernünftige Seele und die Geister keinerlei unmittelbare Einwirkung auf körperliche Substanzen haben können; sie beruft sich auf den Dualismus der cartesianischen Metaphysik, leitet (gegen Spinoza) die Natur der Geister nicht aus dem Gottesbegriff ab.

Die von dieser Position zunächst absehende exegetische Begründung rekurriert auf das hermeneutische Prinzip der Anpassung der Hl. Schrift an die jeweiligen menschlichen Vorstellungen und Verstehensbedingungen; sie besagt, daß keine Schriftstelle den Glauben an Dämonen verlange und daß der Teufel, dessen Existenz die Schrift allerdings zweifelsfrei annehme, nur eine durch Gott beschränkte Macht habe (Dan 2,11; Ex 8,18, 1Sam 28,9, Hi usw.). Die Engel, deren Existenz ebenfalls offenbart sei, können als rein unkörperliche Geister ihrerseits nicht körperlich wirken.

Für seine Verknüpfung von "gesunder Vernunft" und "Gottes Wort" setzt B. die cartesianisch strikte Trennung von philosophischer und theologischer Gewißheit voraus, d. h. die Unschädlichkeit der libertas philosophandi für die Theologie einerseits, die pure Positivität der göttlichen Offenbarung andererseits. Seine Thesen wendet er im dritten Buch, das sich nun den von Geistern angeblich betroffenen oder mit ihnen paktierenden Menschen zuwendet, kritisch auf die Behauptungen über Zauberei, Hexerei, schwarze Magie, "Spückerey" und Wahrsagerei an, insbesondere über Verträge und sexuelle Kontakte mit dem Teufel; vor allem auf die biblischen Erzählungen und Gesetzesbestimmungen. Das vierte Buch stellt Kriterien der Glaubwürdigkeit eigener und berichteter Erfahrungen auf und prüft daran die umlaufenden Geschichten, aus Deutschland z. B. die vom Rattenfänger zu Hameln oder die vom Oldenburger Wunderhorn, das sogar abgebildet ist (und später, als "Des Knaben Wunderhorn", wieder zu Ehren kommen sollte). Es schließt mit zusammenfassendem Urteil, praktischen Forderungen an Geistliche, Lehrer und Richter und mit 1Tim 4,7.

Dem Neudruck ist eine 70seitige Einleitung W. van Bunges vorangestellt, die W. Schröder aus dem Niederländischen übersetzt und um rezeptionsgeschichtliche Informationen ergänzt hat. Sie enthält eine genau gearbeitete Auswahlbibliographie der Ausgaben und Übersetzungen, der übrigen Werke B.s, sowie der kontrovers, rezeptiv oder historisch mit der "Bezauberten Welt" befaßten Literatur in chronologischer Folge.

Die Einleitung selbst (I) gibt einen Überblick über B.s Lebensgeschichte und seine philosophische und theologische Entwicklung im Zusammenhang der cartesianisch-coccejanischen Richtung der reformierten Theologie und ihrer Bestreitung durch die traditionalistischen und für eine "Nadere Reformatie" (Sabbatstreit) kämpfenden Voetianer. Allerdings hat sich B. nicht nur der spinozistischen Bibelinterpretation eines L. Meyer widersetzt, sondern sich in einer Kometenschrift (1683) und in einem Danielkommentar (1988) wie von der christologischen Exegese A. Calovs so auch von der chiliastisch-prophetischen Exegese J. Coccejus’ abgekehrt.

Abschnitt II stellt den Inhalt der "Bezauberten Welt" im Abriß dar (Buch 3 jedoch nicht ganz korrekt, Buch 4 allzu kurz) und stellt heraus, daß sowohl die cartesianischen Prämissen der B.schen Geisterlehre (die auch göttliche Einwirkung auf Körper infragestellen könnten, die Unterscheidung von guten und bösen Geistern nicht hergeben oder den Sündenfall nur "schwer verstehen" lassen) als auch seine Bibelhermeneutik seinerzeit durchaus bestreitbar waren. B. hat seine hermeneutischen Grundsätze, den (noch heute zu zahlenden?!) theologischen Preis für seine aufklärerische Absicht, nicht eigens entfaltet und begründet. Die Vorrede billigt der Vernunft die Aufgabe zu, die Form einer Botschaft ohne Rücksicht auf ihren Inhalt zu beurteilen (eben als mögliche "Offenbarung"), sowie die Aufgabe, mit dem Hl. Geist "mitgehend" den Sinn der Schriftworte zu verstehen. Und die accomodatio ad captum vulgi hat bei B. eine gegenüber Erasmus oder Calvin neue, naturwissenschaftlich und politisch interessante Funktion bekommen, die B. (wie später Semler) durchaus mit B. Spinoza oder L. Meyer verbindet und die schon seinerzeit heterodox radikalisiert werden konnte. z. T. mit Berufung auf B. (E. Walten, J. Duijkerius; ersterer bemerkte auch das neuzeitlich-theologische, nämlich pointiert monotheistische Interesse B.s).

Der Abschnitt III der Einleitung gibt einen vorzüglichen Abriß der Wirkungsgeschichte der "Bezauberten Welt" außerhalb der (in religiösen Dingen so viel weiter entwickelten) Niederlande. Wie P. Bayle B. als rational outré bezeichnet, so wird speziell in Deutschland die Unterstützung der Vorurteils- und Aberglaubenskritik mit ziemlicher theologischer, zumal bibelhermeneutischer, aber auch philosophischer Distanz zu den Argumenten B.s verbunden.

In IV wird versucht, B.s Werk in der crise de la conscience Européenne zu verorten, wie P. Hazard die Zeit um 1700 charakterisiert hat. Hier werden nicht nur soziokulturelle und ökonomische Faktoren benannt, sondern auch christlich-religiöse: B. ist nicht so sehr origineller Pionier als volksaufklärerischer zielstrebiger Vollender einer bereits längeren Tradition der Emanzipation von Naturgewalten und dämonischen Schrecken; und B. ist dies nicht als "Freidenker", sondern als ein der "Übung der Gottsehligkeit" verpflichteter Christ. Er sei nicht heterodox gewesen, meint der Vf.; aber auch B. vertrat keinen bestimmt trinitarischen Gottesbegriff mehr, sondern den neuzeitlich-vernunftrechtlichen Monotheismus.

Fairerweise wird die Absetzung B.s als Prediger in Amsterdam (bei fortgezahlter Besoldung) nicht klerikalen Machenschaften angelastet, sondern der (trotz ausdrücklicher Verwerfung Spinozas durch B.) nun plausibleren Möglichkeit des theoretischen Atheismus, aber zurecht auch der harschen, auch die Liberalen verprellenden Auftreten des "Friesischen Hercules" (J. Chr. Edelmann).

Man kann Edition und Einführung nur stark loben und zur Lektüre empfehlen, auch für den akademischen Unterricht (wäre da nicht der exorbitante Preis). Die Herausgeber haben, zusammen mit der gegenwärtigen Hexenwahn-Forschung, die böse Scharte ausgewetzt, welche der neue "Ueberweg" (V,2 1993) geschlagen hat, indem er B.s Werk nicht einmal erwähnt hat. Aufklärung!