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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1266–1268

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Müller, Peter

Titel/Untertitel:

Alle Gotteserkenntnis entsteht aus Vernunft und Offenbarung. Wilhelm Lütgerts Beitrag zur theologischen Erkenntnistheorie.

Verlag:

Berlin u. a.: LIT Verlag 2012. 297 S. = Studien zur systematischen Theologie und Ethik, 63. Kart. EUR 31,90. ISBN 978-3-643-80120-3.

Rezensent:

Helmut Burkhardt

Die Basler Dissertation des Schweizer Pfarrers Peter Müller beginnt in ihrem ersten Teil mit einer sorgfältig recherchierten Nachzeichnung des Lebens- und Erkenntniswegs des lange in Halle, später in Berlin lehrenden Theologen Wilhelm Lütgert (1867–1938). Dabei geht der Vf. auch auf die Frage nach der Stellung Lütgerts im Dritten Reich ein, mit dem Ergebnis, dass die von C. Gestrich 1977 vertretene These, Lütgert habe den DC nahegestanden, auf einem unglücklichen Missverständnis beruht. Zur Begründung hatte Gestrich u. a. auf eine Passage in Lütgerts Hauptwerk »Schöpfung und Offenbarung« verwiesen, in der dieser aber gerade nicht seine eigene, sondern die von ihm entschieden abgelehnte Überzeugung der DC beschreibt (116 f.). In Wirklichkeit sympathisierte Lütgert offen mit der Bekennenden Kirche. U. a. wirkte er an ihren illegalen Prüfungen mit (109). Um seiner Einstellung willen wurde er 1935 zwangspensioniert (102–108). Eine für das Frühjahr 1936 angekündigte Vortragsreihe in Berlin wurde von der Gestapo verboten und die dann noch im gleichen Jahr unter dem Titel »Der Kampf der deutschen Christenheit mit den Schwarmgeistern« veröffentlichten Vorträge (mit den »Schwarmgeistern« waren insbesondere die regimetreuen DC gemeint) wurden bald nach Erscheinen von der Gestapo beschlagnahmt (116–122).
Die systematische Untersuchung des Lütgertschen Entwurfs entfaltet der Vf. in drei Teilen: Der erste Teil erörtert Lütgerts Wirklichkeitsverständnis: Im Unterschied sowohl zu einem pantheistischen wie zu einem dualistischen Ansatz versteht Lütgert Gott als die »eigentliche«, grundlegende Wirklichkeit, der gegenüber die Weltwirklichkeit als Gottes Schöpfung eine von Gott gesetzte Wirklichkeit »zweiter Ordnung« ist (130). Gott als Schöpfer ist die alles umfassende Wirklichkeit: Seine Ewigkeit umfasst unsere Zeitlichkeit (134–138), seine Allgegenwart unsere Räumlichkeit (138–140), sein Personsein spiegelt sich in unserer Personalität (143–146), seine unbedingte Freiheit in unserer bedingten (146–148). Schöpfung ist creatio ex nihilo; verstanden aber nicht – wie im Deismus – als ein nur einmaliger Akt am Anfang, sondern als fortwirkend schöpferisches und erhaltendes Wirken (151–156). Lütgert zögert allerdings, hierfür den Begriff der creatio continua aufzunehmen, weil für ihn darin die Gefahr einer »flimmernden Existenz« der Schöpfung liegt (Schöpfung und Offenbarung, 147). Vielmehr setzt Gott mit der Schöpfung ein ihn als Schöpfer offenbarendes Seiendes. In diesem Sinn kann Lütgert von einer dem Menschen vorgegebenen »Uroffenbarung« sprechen (161–169). Diese »Uroffenbarung« setzt eine von Gott gesetzte Ordnung alles Geschöpflichen im Sinne der Logosstruktur der Schöpfung voraus. Allerdings spricht Lütgert meines Wissens (entgegen der Darstellung des Vf.s, 164) nur im Singular von einer Schöpfungsordnung, nicht im Plural von »Schöpfungsordnungen«. Ordnungen wie z. B. der Staat sind für Lütgert im Laufe der Geschichte von Menschen entwickelte sekundäre Ordnungen, die an der Schöpfungsordnung zu orientieren sind, ihr aber nicht selten auch widersprechen (so auch der Vf., 166 f.). Das schöpferische Handeln Gottes deutet Lütgert schließlich theologisch von J. G. Hamanns trinitarischem Kondeszendenzgedanken her, also im Sinne einer demütigen »Herunterlassung« Gottes. Als offenbarendes Handeln Gottes ist Schöpfung ein »Sprachgeschehen« (172).
Im zweiten Teil geht es um die Möglichkeit der Erkennbarkeit Gottes vom Menschen her, also um theologische Anthropologie. Hier erörtert der Vf. zunächst Lütgerts intensive Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie Descartes’ (181–190). Der Behauptung Descartes’, dass dem Zweifel im Selbstbewusstsein eine Grenze gesetzt sei (»Ego cogito, ergo sum«), hält Lütgert entgegen, dass der radikale Zweifel auch noch hinter das Bewusstsein zurückfragt, diese Rückfrage aber auf die Gewissheit stößt, gesetzt zu sein: »Cogitor, ergo sum« (189). Dieses »Kreaturgefühl« (190; vgl. 194–200) ist eine dem Menschen schöpfungsmäßig innewohnende religiöse An­lage und also eine ursprüngliche Funktion des menschlichen Geistes. Dadurch ist die menschliche Vernunft das geistige Organ, mit dem die Offenbarung empfangen wird. Sie ist dabei nicht schöpferisch, sondern rezeptiv verarbeitend (191). Die Rezeption der Offenbarung Gottes ist ein Akt des Glaubens. Der Glaube an den Schöpfer aber ist Bedingung des Glaubens an Christus. So ist das Erkennen Gottes in Christus ein Wiedererkennen des Schöpfers (220). Der durch Wahrnehmung vermittelte Wirklichkeitsbezug des Glaubens macht diese Erkenntnistheorie zu einer realistischen (221 f.).
Dieser Realismus ermöglicht schließlich, wie der Vf. im dritten Teil zeigt, auch Theologie als Wissenschaft (229 ff.), mehr noch: Lütgert verweist darauf, dass letztlich jede Wissenschaft als selbstlose Bemühung um Wahrheitserkenntnis unausweichlich mit der Gottesfrage konfrontiert ist (231).
Das Werk Lütgerts ist nach der gründlichen Darstellung des Vf.s nicht nur theologiegeschichtlich von Interesse, sondern bis heute von systematischer Relevanz. Die seit Kant im Protestantismus bis heute weithin selbstverständliche Voraussetzung der Nichterkennbarkeit Gottes (bzw. ihre christologische Engführung seit Schleiermacher) wird durch Neubesinnung auf das offenbarende Handeln Gottes in der Schöpfung infrage gestellt. Der Vf. schlägt für die Konzeption Lütgerts den Begriff »theologia creationis« vor (243–246).
Etwas unglücklich ist, dass der Vf. als Titel der Arbeit zwar eine Aussage Lütgerts selbst wählt (»Alle Gotteserkenntnis entsteht aus Vernunft und Offenbarung«), die aber durch ihre verkürzende Formulierung den der Konzeption Lütgerts gerade zuwiderlaufenden Eindruck erwecken könnte, Vernunft und Offenbarung seien zwei nebeneinander stehende Quellen der Gotteserkenntnis, während doch für Lütgert die Vernunft nur empfangendes Organ, die Offenbarung aber allein Quelle der Erkenntnis Gottes ist (vgl. 217 u. ö.). Angesichts dessen, dass der Vf. ansonsten sehr um den Aufweis geistes- und theologiegeschichtlicher Zusammenhänge bemüht ist, vermisst man im systematischen Teil eine Würdigung auch des Einflusses A. Schlatters auf seinen Schüler und Freund Lütgert. Schließlich wäre noch eine weitere Klärung des Begriffs der Kondeszendenz wünschenswert gewesen, da er jedenfalls für Hamann mit dem in der Aufklärung beliebten Motiv der Akkomodation nicht einfach identisch sein dürfte.
Aber solche Rückfragen mögen nur anzeigen, wie lohnend das weitere intensive Studium des Schrifttums Lütgerts sein könnte. Es ist das große Verdienst dieser Studie, dies anhand der grundlegend wichtigen Thematik der Gotteserkenntnis deutlich gemacht zu haben.