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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1263–1265

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Warnemann, Alexander

Titel/Untertitel:

Der Marburger Theologe Hans Graß.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 356 S. = Marburger Theologische Studien, 109. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02815-3.

Rezensent:

Michael Roth

Alexander Warnemann hat es sich mit seiner von Hans-Martin Barth betreuten und im Jahr 2008 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg angenommenen Dissertation zur Aufgabe gemacht, das theologische Werk von Hans Graß (1909–1994) zu würdigen: Nach seiner Promotion (1939) und Habilitation (1949) in Erlangen lehrte Hans Graß seit 1955 an der Universität Marburg zunächst als außerordentlicher Professor für Systematische Theologie und schließlich als ordentlicher Professor für Systematische Theologie und Sozialethik. Der Vf. empfindet es als erstaunlich, dass, obwohl Graß »zahlreiche wichtige Monographien und eine große Anzahl von Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften und Lexika vorgelegt« habe, »bislang keine umfassende Gesamtwürdigung seiner Theologie« vorliege. Dabei sei er »als lutherisch geprägter Theologe, der in seinem Schaffen die Tradition Schleiermachers, die Anliegen der liberalen Theologie und der Entmythologisierungsdebatte zu vereinen suchte, ein durchaus origineller und interessanter Denker« (XIII).
Nach einer Betrachtung der Biographie (7–35) analysiert der Vf. in einem zweiten Teil das theologische Werk von Hans Graß (37–287), wobei er die einzelnen Werke nicht chronologisch referiert, sondern jeweils thematischen Blöcken (»Das Neue Testament« [37–65], »Das lutherische Erbe« [66–143], »Der systematisch-theologische Ansatz« [144–246] und »Ökumenische Theologie und Kirche« [247– 287]) zuordnet. Für Graß, der bereits als Student in Marburg von der Theologie Rudolf Bultmanns stark beeinflusst wurde (vgl. 10 f.), bildete der »ständige Bezug auf das kritisch verstandene Neue Testament […] ein unverzichtbares Moment systematisch-theologischer Arbeit« (61). Die Art und Weise seiner Bezugnahme auf das Neue Testament ergebe sich daraus, dass Graß einerseits »Befürworter des Konzeptes der Entmythologisierung und damit verbunden der historisch-kritischen Arbeit am Neuen Testament« (37 f.), andererseits auch von Wilhelm Hermann und seiner Unterscheidung von Glaubensgrund und Glaubensgedanken beeinflusst gewesen sei: Zum einen stehe »für Graß die grundsätzliche Berechtigung des anthropologischen Bezugs bzw. der existentialen Interpretation und damit des Entmythologisierungsprogramms außer Frage«, zum anderen halte er »eine alleinige ahistorische Konzentration auf das Selbstverständnis des gegenwärtigen Menschen für nicht hinreichend« (43). Im Unterschied zu Bultmann sei für Graß nicht das Kerygma, sondern das Ostergeschehen der Glaubensgrund (vgl. 48). So limitiere Graß’ »Betonung des ›externen‹, grundlegenden göttlichen Heilshandelns […] die Ausschließlichkeit exis­tentialer Interpretation, ohne ihre Berechtigung grundsätzlich zu verneinen« (46); denn wie Bultmann sei auch Graß von dem Anliegen getragen, »die Begegnung in der persönlichen Betroffenheit bzw. dem Angesprochensein durch den lebendigen Herrn zu su­chen« (48). Dieses Anliegen – so zeigt der Vf. – findet auch in Graß’ wohl bekanntester Schrift »Ostergeschehen und Osterberichte« aus dem Jahr 1964 Niederschlag. Weil für Graß »die Begegnung mit dem Auferstandenen wesentliche Voraussetzung der Verkündigung« (57) war und er »die Grundlage der Osterbotschaft auf die Erscheinungen des Erhöhten reduziert und diese als Grund für die Entstehung des Osterglaubens der Jünger sowie ihres Zeugnisses ansieht« (55), relativiere er die theologische Bedeutsamkeit der Frage nach dem leeren Grab. Exemplarisch verdeutliche die Arbeit über das Ostergeschehen auch die Verschränkung von systematisch-theologischer und neutestamentlicher Arbeit: »[D]ie vor­-rangige systematische Untersuchung des Osterglaubens erfolgt im Anschluß an eine eingehende neutestamentliche Untersuchung der paulinischen und evangelischen Osterberichte.« (61)
In einem zweiten Schritt seiner Analyse des theologischen Werks von Graß wendet sich der Vf. dessen »lutherischem Erbe« zu. Nach einer Vorklärung, die sich mit dem Einfluss von Paul Althaus auf Graß beschäftigt (66–76), befasst sich der Vf. mit Graß’ Auseinandersetzung mit der Abendmahlslehre (76–89), der Zwei-Reiche-Lehre (89–118) und der Rechtfertigungslehre (119–141). Dabei zeige sich, dass Graß »nicht einseitig konfessionell gebunden« sei, sondern eine Vermittlung anstrebe »zwischen den wesentlichen Elementen lutherischer Theologie und den Denkbewegungen der Gegenwart« (143).
Im Mittelpunkt des Kapitels über den »systematisch-theolo-gischen Ansatz« steht die Dogmatik von Graß, die zweibändige »Christliche Glaubenslehre« aus den Jahren 1973 und 1974. »Indem ›christlicher Glaube‹ und ›unsere Zeit‹ als aufeinander zu beziehende Größen beschrieben werden, ist das strukturelle Leitprinzip der Glaubenslehre benannt« (172). Die Stärke des Graßschen Entwurfs erblickt der Vf. darin, dass für Graß »die Gegenwart bzw. der mo-derne Mensch in seiner Situation und die gläubige Annahme der christlichen Botschaft gerade keine sich ausschließenden Gegen­-über darstellen. Im Gegenteil ist darauf hinzuweisen, dass hier wei­terhin in einem nicht geringen Maße zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten bestehen«. Kritisch sieht der Vf., dass »die Behauptung eines, wenn auch geschichtlich begründeten, religiöse n Aprio- ris von nicht geklärten anthropologischen Voraussetzungen« ausgeht. Darüber hinaus bleibe Graß’ Perspektive »weitgehend auf den westeuropäischen Kulturkreis beschränkt« (245).
Abschließend werden die »ökumenische Theologie und die Konfessionskunde« bedacht. Der Vf. verdeutlicht an den Hauptthemen der ökumenischen Auseinandersetzung (Schrift [255–260], Abendmahl [260–267], Amt [267–272] und Mariologie [272–281]), dass Graß sowohl ein Nebeneinander der unterschiedlichen Konfessionen und Traditionen bejahe als auch jedem ökumenischen Enthusiasmus fern stehe. Von hier aus sei auch seine wohl bekannteste Schrift innerhalb des ökumenischen Diskurses, »Traktat über Mariologie« aus dem Jahr 1991, zu verstehen. So nehme Graß kritisch Stellung zu den Papieren der VELKD »Maria – evangelische Fragen und Gesichtspunkte – ein Gespräch« (1982) und »Maria, die Mutter unseres Herren: eine Handreichung« (1991), bei denen er die Tendenz feststelle, die Marienverehrung unter den Protestanten zu fördern. Graß problematisiere den vorkritischen Schriftgebrauch und die vorbehaltlose Übernahme der altkirchlichen Dogmenbestände beider Papiere. »Einer Förderung der Mariologie bzw. der Marienfrömmigkeit auf protestantischer Seite ist nach Graß stets mit größter Zurückhaltung zu begegnen, zumal sie regressiven Charakter trage« (276).
In einem abschließenden dritten Teil nimmt der Vf. eine »Theo­logische Würdigung« (289–308) vor. Positiv wird hervorgehoben, dass Graß »nach Anschlussfähigkeit an die gegenüber früheren Zeiten veränderte Situation des zeitgenössischen Menschen« (302) suchte und in diesem Zusammenhang auch die »Öffnung und materiale Umgestaltung der Dogmatik im Sinne der existentiellen Nachvollziehbarkeit sowie die ständige und sachgerechte Rück-bindung an das Neue Testament zu sehen« (302) seien. Als grundsätzliches Desiderat nennt der Vf. eine Zurückhaltung hinsichtlich prinzipieller Argumentationen, so dass leitende Kriterien und Prämissen nicht hinreichend offengelegt und ausgewiesen werden (vgl. 299).
Der Vf. eröffnet mit seiner Darstellung einen Einblick in das Werk von Hans Graß und stellt einen lutherischen Theologen und Paul-Althaus-Schüler vor, der keinesfalls konfessionell eng dachte, sondern seine lutherische Identität, Bultmanns existentiale Interpretation und die Anliegen der liberalen Theologie zu verbinden suchte.