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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1258–1261

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Barth, Karl

Titel/Untertitel:

Vorträge und kleinere Arbeiten 1914–1921. In Verbindung m. F.-W. Marquardt (†) hrsg. v. H.-A. Drewes.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2012. LII, 784 S. = Karl Barth-Gesamtausgabe, III/48. Lw. EUR 125,00. ISBN 978-3-290-17630-3.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Es hat lange gedauert. Bereits Anfang der 1970er Jahre verwies Fried­rich-Wilhelm Marquardt zur Unterstützung seiner umstrittenen Interpretation, die Barths Theologie von seiner politischen, sozialistischen Praxis aus las, auf die zahlreichen »Sozialistischen Reden«, die der damalige Safenwiler Pfarrer in der Zeit des Ersten Weltkriegs gehalten habe und deren Herausgabe im Rahmen der Karl Barth-Gesamtausgabe ihm, Marquardt, anvertraut worden sei. 40 Jahre später liegen diese Reden, zusammen mit vielen anderen bisher größtenteils unpublizierten Texten und Textentwürfen Barths aus der Safenwiler Zeit, nun endlich der gespannt wartenden Öffentlichkeit vor. Dazwischen liegen der Tod Marquardts im Jahr 2002 sowie die Übernahme der Leitung des Karl Barth-Archivs durch den zweiten verantwortlichen Band-Herausgeber Hans-An­ton Drewes, der seinerseits, wie er im Vorwort schreibt, »die Arbeiten an dem vorliegenden Band mit einiger Mühe erst im Übergang in den Ruhestand beenden« konnte (IX).
Bei Betrachtung der hier nur kurz skizzierten ungünstigen Entstehungsumstände des Bandes, über die Drewes’ Vorwort Rechenschaft gibt, fragt man sich – wie bei anderen Bänden der Karl Barth-Gesamtausgabe –, warum es in der Schweiz nicht möglich gewesen ist, für dieses Großprojekt Fördermittel zu bekommen, die die Einstellung hauptamtlicher, allein der Editionsarbeit verpflichteter Wissenschaftler ermöglicht hätten, wie sie in Deutschland etwa für die Schleiermacher- und Troeltsch-Gesamtausgaben eingeworben werden konnten. Zugleich verdient die zwar verzögerte, gleichwohl vorzügliche Editionsarbeit von Drewes und seinen Helfern unter diesen Umständen besonderes Lob. Für jeden Text Barths aus dieser Zeit, sei es ein kurzes Fragment oder die weithin bekannte Tambacher Rede, wurden die Entstehungsumstände, die Quellen und – soweit vorhanden – das unmittelbare Echo eruiert, was denen, die nun nach 100 Jahren diese Texte lesen, wichtige Interpretations-hinweise gibt. Auch anekdotisches Material erhält auf diese Weise tie­-fere Bedeutung. So zeigt die Nachgeschichte des Vortrags-Ma­-nu­skripts »Kriegszeit und Gottesreich« einen Aspekt starker Selbstkritik, der zum üblichen Bild Barths in der Öffentlichkeit durchaus im Widerspruch steht. Barth hatte Thurneysen, der diesen Vortrag von 1915 gern 1928 nachträglich veröffentlichen wollte, das abgeschriebene Manuskript zugesandt, allerdings nur, um sein Unbehagen zum Ausdruck zu bringen. Dazu der Herausgeber: »Leider scheint Barths Weisung: ›Fort damit, dein Matthias soll Papierpfeile daraus machen, und die schon beschriebenen Bogen eignen sich ausgezeichnet für den Lokus‹ zur Hälfte befolgt worden zu sein« (185).
Inhaltlich verdient die vorliegende Edition vor allem aus drei Gründen hohes Interesse.
1. Besonders wichtig sind die Erkenntnisse für die Genese von Barths Dialektischer Theologie. In den hier dokumentierten Zeit­raum fällt das, was lange Zeit, nicht zuletzt bedingt durch Barths eigenes Selbstzeugnis, als »Bruch mit der liberalen Theologie« tituliert wurde. Lediglich der Zeitpunkt dieses Bruchs war in der Forschung strittig. Nachdem man, stellvertretend genannt seien die Arbeiten Bruce McCormacks, in der Barth-Forschung gelernt hatte, stärker die Kontinuitäten in Barths theologischer Entwicklung zu sehen, sind in jüngerer Zeit auch Kontinuitäten zu Barths akademischen Lehrern – ob das Schlagwort »Liberale Theologie« an- gemessen ist, mag hier dahingestellt bleiben – betont worden (Pfleiderer, Wittekind, Chalamet, Lohmann). Die vorliegenden Texte bestätigen diese Forschungshypothese. So schreibt er am 28.4.1914 – also lange vor Kriegsausbruch und den Barth empörenden Stellungnahmen zum Krieg von Seiten einiger seiner theologischen Lehrer – bereits ganz im Sinne der späteren Dialektischen Theologie: »Gegenüber dem hohlen, gefühls- und redeseligen religionsähnlichen Optimismus, den ich meine, ist der Frontalangriff besser am Platz als alles Andere.« (35) Das passt zum »Evangelium des absoluten und lebendigen Gottes« (70), das Barth in der bereits be­kannten, im Juli 1914 abgeschlossenen Rezension von Naumanns »Hilfe« dessen Theologie der »Eigengesetzlichkeit« (Barth verwendet diesen Begriff erstmals in einem Manuskript vom 21.7.1914, vgl. 51) des Politischen entgegenstellt. Wie lassen sich diese Funde aber damit in Einklang bringen, dass Barth sich noch am 21.5.1914 das später so vehement bekämpfte persönliche Erleben der Offenbarung zu eigen macht? »Wo Beides ist[,] das Quellen unter dem Einfluß des Gottesgeistes und die Bereitschaft[,] erleben wir die Offenbarung, da fließen die Gotteskräfte aus der alten Zeit herüber in unsre Lage[,] unser Leben[,] unsre Verhältnisse.« (37)
Die Gleichzeitigkeit beider Stränge lässt sich am plausibelsten erklären, wenn man im Anschluss an Christophe Chalamet die »dialektischen« Anteile in der Theologie von Barths besonders ge­liebtem Lehrer Wilhelm Herrmann hervorhebt und Barths theologische Entwicklung in den ersten Safenwiler Jahren nicht als plötzlichen Bruch, sondern als allmähliches Ablösen von Herrmanns Syntheseversuch von Kulturprotestantismus und radikal jenseitig gedachtem Gott versteht. Gott als überweltliche Macht, die persönlich in der Religion erlebt werden kann – das war das Lebensthema Herrmanns, das bei Barth 1914 noch völlig präsent ist (was sich im Übrigen auch aus den bereits im Rahmen der Barth-Ge­samtausgabe veröffentlichten Predigten dieses Jahres bestätigen lässt). Eine eminente Nachwirkung Herrmanns besteht weiterhin darin, wie Barth auch nach der Abwendung von der Erlebniskategorie eine Verbindungsmöglichkeit zum transzendenten Gott gewährleistet sieht: im Jesus der Evangelien. »Ja, die Welt wird jetzt entgöttert u. erweist sich als das, was sie ist, als Welt. Dafür erweist sich Gott umso kräftiger als Gott. Als der Gott, den wir aus dem Leben u. Evangelium Jesu kennen«, heißt es 1915 (195). In Kontinuität und Widerspruch zu Barths späterem Programm der Christologischen Konzentration kann man für die im vorliegenden Band gesammelten Texte von einer Jesuanischen Konkretion sprechen – und das verbindet den Safenwiler Barth (noch) mit Wilhelm Herrmann. Einzige, aber maßgebliche Differenz ist, dass diese Konkretion Barth nach der endgültigen Destruktion der Erlebniskategorie im Herbst 1914 – im Unterschied zu seiner früheren Theologie – nicht mehr inwendig erlebbar erscheint. Wer hier über die gegebenen Überlegungen hinaus ein klareres Bild der theologischen Entwicklung Barths und seines Verhältnisses zum Kulturprotestantismus gewinnen will, wird in Zukunft nach den »Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921« greifen müssen.
2. Seit Marquardts Habilitationsschrift steht die Frage im Raum, welche Rolle dem Sozialismus für die Entstehung der »neuen« Theologie Barths zukommt. Zur Erinnerung: »Die Theologie Karl Barths hat ihren Sitz im Leben in seiner sozialistischen Aktivität« (Marquardt, Sozialismus bei Karl Barth; in: Junge Kirche 33 [1972], 2–15, 3). Die vorliegenden Texte, auch und gerade die bisher unveröffentlichten Sozialistischen Reden, bestätigen den schon lange etablierten Forschungskonsens, dass diese These falsch ist. Immer wieder wird deutlich, dass Barth nicht seine theologischen Leitlinien nach dem Maßstab des Sozialismus entwirft, sondern umgekehrt sich ausgehend von theologischen Überlegungen dem Sozialismus zuwendet. Barth interpretiert den Sozialismus originell als Befreiungsbewegung von Bindungen an das Irdisch-Materielle, und er kritisiert den ihm begegnenden Sozialismus genau dann, wenn dieser – wie beim Gutheißen der deutschen Kriegskredite – seiner Mission im Sinne »des Selbständig werdens der lebendigen Menschen gegenüber der Materie« (153) untreu wird. Weil sein Interesse einem »weltfreien und weltüberwindenden Christentum« (115) gilt, kritisiert Barth die »Genußsucht des Bürgertums« (163) und formuliert die These: »Ein wirklicher Sozialist muß Christ sein u. ein wirklicher Christ muß Sozialist sein« (93; vgl. 117). Barth lobt den Sozialismus, wo er der »transzendenten Kraft der sozialis­tischen Wahrheit« (155) Raum gibt; er kritisiert ihn, wenn auch in ihm die »innere Verbindung mit der bestehenden Welt« (88) die Oberhand behält. Die Bewegung des Sozialismus ist »Anzeichen« für das Reich Gottes und für das Wirken Gottes in der Welt, mehr aber auch nicht (vgl. 219). »Entscheidend ist die Gottesfrage« (60), und nicht die politische Praxis. »[I]ch halte darum den ›politischen Pfarrer‹ in jeder Form, auch in der sozialistischen[,] für eine Verirrung« (219 f.).
3. Barths Antithesen gegen ein Sich-Einrichten in der Welt treffen nicht nur die Politik – und sei es die sozialdemokratische –; sie treffen auch die Kirche. Zu den erstaunlichsten Texten der Sammlung gehört Barths »Antrag betreffend Abschaffung des Synodalgottesdienstes«, den er Ende 1915 den Aargauer Synodalen vorlegte. Die Synode sei nichts anderes als »eine Verwaltungsbehörde, die Geschäfte abwickelt«, und deshalb sei es nur ehrlich, »das falsche religiöse Mäntelein abzulegen« (176) und auf den Gottesdienst zu Beginn der Synode zu verzichten. Hier und an anderer Stelle (vgl. vor allem 246–249.704–716) klingt bereits die Kritik an jedem Triumphalismus in der Kirche an, die Barth zeitlebens beibehalten hat.
Sucht man nach einem Begriff, der den Texten des Bandes in all ihrer Vielfältigkeit das Gepräge gibt, so ist es die »Krisis« (vgl. 54), eine Krisis, die in all ihrer Negativität der Freiheit Gottes und des Menschen dienen soll. In dreister Unbekümmertheit, mit dem Bewusstsein der »ewig Unzufriedenen« und »kühnen Schwärmer« (248), entwickelt Barth in den Safenwiler Jahren eine Theologie, die konsequent auf den epochemachenden zweiten »Römerbrief« hinausläuft. Man mag zur späteren Theologie Barths stehen, wie man will. Wer sie verstehen will, wird künftig an den »Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921« nicht vorbeikommen – eine der wichtigsten theologischen Neuerscheinungen der letzten Jahre.