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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1257–1258

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Wolf, Hubert

Titel/Untertitel:

Papst und Teufel. Die Archive des Vatikan und das Dritte Reich.

Verlag:

München: C. H. Beck 2012. 360 S. m. 1. Kt. u. 28 Abb. = Beck’sche Reihe, 6036. Kart. EUR 14,95. ISBN 978-3-406-63090-3.

Rezensent:

Martin Greschat


Der zu besprechende Band ist das Resultat einer internationalen Tagung, die 2010 in Münster stattfand und mit der das »Forschungsnetzwerk Pius XI.« aus der Taufe gehoben wurde. Tagung und Forschungsnetzwerk sind eine Reaktion auf die Öffnung der Vatikanischen Archive für die Forschungen zum Pontifikat Pius XI., die 2003 und 2006 erfolgte. Insofern ist der Rahmen auch des Ta­gungsbandes deutlich weiter gesteckt, als es der zu eng gefasste und leicht in die Irre führende Haupttitel vermuten lässt. Die im Titel vorgenommene Fokussierung auf Pacelli verweist auf einen zweiten Hintergrund: das Editionsunternehmen, mit dem in Münster Hubert Wolf und sein großes Team dabei sind, sämtliche Nuntiaturberichte Pacellis einschließlich der verschiedenen Entwurfsfassungen und der Beilagen online zu edieren (zur Zeit stehen insgesamt 8957 Dokumente für die Zeit bis 1921 zur Verfügung; vgl. www.pacelli-edition.de; 27.5.2013).
So verwundert es nicht, wenn der Band zunächst dem Ziel dient, das akademische Publikum mit diesem enorm aufwändigen Editionsvorhaben vertraut zu machen, die Zielsetzungen zu plausibilisieren, die Bearbeitungsschritte zu erläutern und auch auf die in der Tat vorzüglichen Arbeitsmöglichkeiten mit diesem Quellenmaterial hinzuweisen (über 6.500 Nuntiaturberichte Pacellis in verschiedenen römischen Archivbeständen sind zu erschließen; vgl. 25.29). Ein zweiter Teil eröffnet dann verschiedene thematische Zugänge zum Nuntius Pacelli und zu seinem Wirken in Deutschland. Darüber hinaus findet sich hier ein Beitrag von Mark Edward Ruff zur sogenannten Hochhuth-Kontroverse. So inhaltsreich dieser Beitrag ist, so fügt er sich doch nicht recht in die thematische Ausrichtung und die innere Systematik des Bandes ein, denn es geht dabei nicht um den Nuntius Pacelli, sondern um Pacellis angebliches Schweigen als Papst Pius XII. und die darüber in den 1960er Jahren ausbrechende Kontroverse.
Die übrigen Beiträge dieses Teiles gehen meist auf umfängliche Monographien der Autoren und Autorinnen zum jeweiligen Spezialthema zurück, die teils noch nicht in Deutsch vorliegen. Es wird deutlich, dass man vorsichtig sein muss, allzu sehr die »deut-schen Prägungen« Pacellis zu betonen. Grundlegende Festlegungen brachte er schon aus Rom mit: seinen moderaten Antimodernismus und kurialen Zentralismus, seine Vorliebe für die Neoscholastik und die Jesuiten. Außerdem war seine Wahrnehmung Deutschlands keineswegs nur positiv (schon seit den ersten diplomatischen Gehversuchen noch im Ersten Weltkrieg), sondern ausgesprochen ambivalent: sehr kritisch gegenüber den kulturellen Entwicklungen der 1920er Jahre, aber auch gegenüber dem deutschen Episkopat und Teilen der deutschen Theologie; voll Begeisterung für die deutsche Technik, aber auch für das ordentliche Verhalten der Gläubigen in den Gottesdiensten usw. Noch nach Jahren blieb bei Pacelli ein deutliches »Fremdeln«, das sich u. a. bei den Kontakten Pacellis zeigt (so auch in Teil IV. von Karsten Ruppert aufgezeigt). Folgt man den gut nachvollziehbaren Argumenten in den Beiträgen von Klaus Unterburger und Philippe Chenaux, so nahm Pa­celli nach Rom u. a. die Einsicht mit, das römische System der theologischen Ausbildung erheblich verbessern zu müssen. Dem deutschen Nationalismus aber stand er äußerst reserviert gegen­-über und war geprägt von persönlichen Erfahrungen mit einem kämpferischen Marxismus im Revolutionsjahr 1918/19.
Das im Untertitel formulierte Versprechen, Ansätze für einen in­ternationalen Vergleich zu bieten, lösen die beiden folgenden Teile insgesamt gut ein. So wird es durch Teil III nun ansatzweise möglich, die Nuntiatur Pacellis mit der einiger seiner Kollegen zu vergleichen, die in Deutschland benachbarten Ländern wie Frankreich, Österreich, Polen oder der Tschechoslowakei amtierten. Der Leser erhält in der Addition der einzelnen, von ausgewiesenen Spe­zia­listen verfassten Beiträge einen Überblick zum Nuntiaturwesen der Zwi­schenkriegszeit, den es sonst nicht gibt. Es wird überaus an­schaulich, vor welch große Herausforderungen der Zu­sammenbruch der alten Ordnung die vatikanische Diplomatie ab 1918 stellte, Herausforderungen, die dazu noch selbst zwischen benachbarten Ländern wie Polen oder der Tschechoslowakei erheblich divergierten. Die recht unterschiedliche Intensität der Darstellung, der Ausrichtung auf das gemeinsame Leitthema und der analytischen Tiefenschärfe der Beiträge fällt auf und erschwert eine volle Vergleichbarkeit.
Teil IV beschäftigt sich mit dem Vatikan und den katholischen Parteien in Europa. Der sehr elaborierte Artikel von Karsten Ruppert skizziert die Entwicklung des Zentrums und richtet ein besonderes Augenmerk tatsächlich auf das Verhältnis zwischen dieser Partei, der Kurie, dem deutschen Episkopat und dem katholischen Klerus. Er zeigt prägnant auf, wie locker diese Beziehung insbesondere zu Rom und zum Episkopat war und wie sehr man im Zentrum nach den traumatischen Erfahrungen des späten 19. Jh.s darauf bedacht blieb, Eigenständigkeit zu bewahren, ohne in grundsätzlichen Fragen der Weltanschauung die katholische Basis zu verlassen. Ruppert beschreibt auch exzellent die Probleme, die sowohl der Nuntius als auch die deutschen Bischöfe mit dem gesellschaftlichen Pluralis-mus hatten, während die Zentrumspolitiker bei vielen inhaltlichen Übereinstimmungen in der Summe bedeutend realitätsnäher wa­ren. Dass man aber wechselseitig aufeinander angewiesen war und es zum Zentrum keine Alternative gab, wenn kirchliche Interessen in Deutschland Gehör finden sollten, war bei aller Distanz ebenso dem Nuntius wie den führenden Zentrumspolitikern klar. Der durch den Band ermöglichte direkte Vergleich mit Österreich oder auch Italien zeigt die gravierenden Unterschiede im politischen Ka­tholizismus der Zwischenkriegszeit auf. Der unmittelbare kirchliche Einfluss auf die »katholische Partei« war etwa bei den Christso­zialen in Österreich weit größer, die Begeisterung des Nuntius und Roms für sie deutlich ausgeprägter als gegenüber dem Zentrum. Bemerkenswert erscheint auch die unterschiedlich gewichtige Rolle von Priesterpolitikern. In Österreich (Ignaz Seipel) oder auch in der Tschechoslowakei (Andrej Hlinka; Jan Šrámek) war sie außerordentlich stark, wohingegen Prälat Ludwig Kaas als Vorsitzender des Zentrums eher eine blasse Verlegenheitslösung blieb. Eine bemerkenswerte Koinzidenz in den Beiträgen entsteht im Hinblick auf die ausgeprägte Bereitschaft in Rom zur Zeit Pius XI., autoritäre politische Lösungen zu begünstigen oder wohlwollend zu begleiten. Der Ab­schied von der vorher so hochgelobten christsozialen Partei zugunsten des autoritären katholischen Ständestaats in Österreich in den frühen 1930er Jahren fiel etwa offenkundig weder Rom noch dem Wiener Nuntius noch den österreichischen Bischöfen schwer.
Angesichts der vielen Einsichten wäre es zu wünschen gewesen, dass an einer Stelle des Bandes – sei es in der Einleitung, sei es in einer Schlussbilanz – ein wenigstens punktueller Abgleich der einzelnen Befunde durchgeführt und damit eine erste Synthese hergestellt worden wäre. Dass der Herausgeber zu solchen Synthesen problemlos in der Lage ist, muss nicht eigens betont werden. So aber bleibt es dem Leser oder der zukünftigen Forschung überlassen, zu einer solchen Bilanz zu gelangen. Die Wege dorthin weist der Band und für die Weiterarbeit leisten Orts-, Personal- und Sachregister (die Sachstichworte sind sehr knapp gehalten) Hilfestellungen, für die man dankbar ist.

TrierBernhard Schneider


Bei diesem Text handelt es sich um die durchgesehene Fassung der im Jahr 2008 nacheinander erschienenen ersten und zweiten Auflage des Buches des renommierten katholischen Kirchenhistorikers Hubert Wolf. Nach einer lebendigen Darstellung, was die geheimen Archive des Vatikans sind – und was sie eben nicht sind! – (7–26), folgen fünf ebenso anregende wie informative Studien über die Beurteilung der Vorgänge in Deutschland von 1917 bis 1929 aus der Sicht von Papst Pius XI. und seinem dortigen Nuntius, dann Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli (27–93). Hierbei tritt klar die beherrschende Rolle des römischen Zentralismus zutage, die eindeutige Beschränkung auf die katholischen Belange, mithin eine geradezu dualistische Weltsicht, bei der alles, was dem starren Antimodernismus widersprach, schroff verworfen wurde. Folgerichtig blieb auch Pacelli vieles nicht nur von der geistig-kulturellen Eigenart Deutschlands, sondern ebenso des hiermit verbundenen deutschen Katholizismus in der Zeit der Weimarer Republik dauerhaft fremd.
Es ist aufschlussreich, zu verfolgen, wie der Vatikan auf dem skizzierten Hintergrund mit dem wachsenden Antisemitismus umging (95–143). Das Problem verdichtete sich 1928 anlässlich der Frage, ob und wie die Karfreitagsliturgie mit der Verurteilung der »perfiden Juden« zu ändern wäre. Intensive interne Diskussionen waren die Folge. Die Befürworter einer entschärften Fassung erlitten schließlich eine schwere Niederlage, weil sich auch Pius XI. entschieden gegen eine veränderte Formulierung aussprach. Zugleich wurden die Hintergründe dieser Entscheidung kaschiert, um dem Antisemitismus keine neue Nahrung zu liefern. Man unterschied deshalb fortan zwischen einem falschen, nachdrücklich zu verurteilenden rassistischen Antisemitismus einerseits und andererseits einem berechtigten Antisemitismus, der sich gegen die finanzielle und sittliche Bedrohung der Gesellschaft durch das Judentum richtete. Unübersehbar sind die Parallelen zu protestantischen Positionen seit dem letzten Drittel des 19. Jh.s.
In der dritten Studie greift W. noch einmal die Vorgeschichte des Reichskonkordats von 1933 auf (145–203). Zu Recht weist er erneut die von Klaus Scholder vertretene These zurück, wonach Rom für den Preis des Konkordats die Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz erteilte. Die deutschen Bischöfe handelten jedoch keineswegs als Marionetten, sondern in eigener Verantwortung. Allerdings belegen die Quellen des Vatikans, dass man den in Deutschland eingeschlagenen Kurs im Wesentlichen billigte. In seinem gleichzeitig an anderer Stelle veröffentlichten Artikel (Reichskonkordat für Ermächtigungsgesetz? VfZ 60, 2012, 169–201) durchleuchtet W. im Blick auf die komplizierte, undurchsichtige politische Situation in Deutschland die Vorgänge. Sein Vorschlag, von einem »Erwartungszusammenhang« seitens der Bischöfe zu sprechen anstatt von einem »Junktim« zwischen Konkordat und Ermächtigungsgesetz (181), leuchtet ein. Der rigide Formalismus Konrad Repgens mit seiner Beschränkung auf die in den Akten vorliegenden Äußerungen wird jedenfalls den verwickelten Zusam­menhängen kaum gerecht. »Denn die Wirklichkeit ist eben auch von unausgesprochenen Erwartungen und Selbstverständlichkeiten geprägt, von verdrängten Wünschen und von bewusster Geheimhaltung.« (VfZ 60, 2012, 189)
Vom Schweigen von Papst Pius XI. in den Jahren 1933 bis 1939 angesichts der Verfolgung der Juden in Deutschland handelt der folgende Abschnitt (205–251). Der Vatikan war genau informiert, auch der Papst. W. deutet das hier vorliegende Dilemma zumindest an: Pius XI. sah sich einerseits aufgrund des universalen moralischen Anspruchs der Päpste für ein Eingehen auf die Hilferufe zuständig und verantwortlich. Andererseits musste er den Nutzen einer öffentlichen Stellungnahme erwägen. Was Pius XI. getan hätte, hätte er länger gelebt, steht dahin; ebenso, wie er mit der von ihm vorbereiteten Denkschrift verfahren wäre. Pius XII. jedenfalls setzte sich mit dem Kurs der strikten Neutralität dauerhaft durch. Auch die Predigten von Galens konnten ihn nicht von diesem Weg abbringen.
Der letzte Beitrag behandelt den Gegensatz von katholischer Weltanschauung und nationalsozialistischer Ideologie in der Zeit vor Beginn des Zweiten Weltkriegs (253–306). Pointiert fragt W., warum Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« auf den Index kam, jedoch nicht Hitlers »Mein Kampf«. Dabei ging es eindeutig nicht um die Annahme, beide Weltanschauungen ließen sich vielleicht doch harmonisieren. Wie klar man im Vatikan die Gegensätze sah, belegte schließlich die Enzyklika »Mit brennender Sorge« auch öffentlich – allerdings erst 1938. Bis dahin war man vor einer eindeutigen Verurteilung Hitlers zurückgeschreckt: Immerhin war er seit 1933 die legale staatliche Obrigkeit. Doch in den Jahren davor? Es scheint, dass man Hitler auch in Rom unterschätzte – und dann bestrebt war, Schlimmeres zu verhüten.
Sämtliche Beiträge dieses Bandes belegen eindrücklich die Bedeutung sorgfältiger kritischer Analysen der Quellen. Unverkennbar führen sie zu einem erheblichen Erkenntnisgewinn im Blick auf den Katholizismus im ersten Drittel des 20. Jh.s. W. ist gleichzeitig zu attestieren, dass er das von ihm geforderte Aufbrechen dogmatischer Verengungen (VfZ 60, 2012, 200) in mustergültiger Weise geleistet hat. Die klare Abkehr von jeglicher Schwarz-Weiß-Malerei und die überzeugende Darlegung der realen historischen Grautöne bilden nicht das geringste Verdienst dieser gewichtigen Studien.