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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1255–1256

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Wolf, Hubert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Eugenio Pacelli als Nuntius in Deutschland. Forschungsperspektiven und Ansätze zu einem internationalen Vergleich.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2012. 325 S. = Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte. Reihe B: Forschungen, 121. Lw. EUR 44,90. ISBN 978-3-506-77314-2.

Rezensent:

Bernhard Schneider


Der zu besprechende Band ist das Resultat einer internationalen Tagung, die 2010 in Münster stattfand und mit der das »Forschungsnetzwerk Pius XI.« aus der Taufe gehoben wurde. Tagung und Forschungsnetzwerk sind eine Reaktion auf die Öffnung der Vatikanischen Archive für die Forschungen zum Pontifikat Pius XI., die 2003 und 2006 erfolgte. Insofern ist der Rahmen auch des Ta­gungsbandes deutlich weiter gesteckt, als es der zu eng gefasste und leicht in die Irre führende Haupttitel vermuten lässt. Die im Titel vorgenommene Fokussierung auf Pacelli verweist auf einen zweiten Hintergrund: das Editionsunternehmen, mit dem in Münster Hubert Wolf und sein großes Team dabei sind, sämtliche Nuntiaturberichte Pacellis einschließlich der verschiedenen Entwurfsfassungen und der Beilagen online zu edieren (zur Zeit stehen insgesamt 8957 Dokumente für die Zeit bis 1921 zur Verfügung; vgl. www.pacelli-edition.de; 27.5.2013).
So verwundert es nicht, wenn der Band zunächst dem Ziel dient, das akademische Publikum mit diesem enorm aufwändigen Editionsvorhaben vertraut zu machen, die Zielsetzungen zu plausibilisieren, die Bearbeitungsschritte zu erläutern und auch auf die in der Tat vorzüglichen Arbeitsmöglichkeiten mit diesem Quellenmaterial hinzuweisen (über 6.500 Nuntiaturberichte Pacellis in verschiedenen römischen Archivbeständen sind zu erschließen; vgl. 25.29). Ein zweiter Teil eröffnet dann verschiedene thematische Zugänge zum Nuntius Pacelli und zu seinem Wirken in Deutschland. Darüber hinaus findet sich hier ein Beitrag von Mark Edward Ruff zur sogenannten Hochhuth-Kontroverse. So inhaltsreich dieser Beitrag ist, so fügt er sich doch nicht recht in die thematische Ausrichtung und die innere Systematik des Bandes ein, denn es geht dabei nicht um den Nuntius Pacelli, sondern um Pacellis angebliches Schweigen als Papst Pius XII. und die darüber in den 1960er Jahren ausbrechende Kontroverse.
Die übrigen Beiträge dieses Teiles gehen meist auf umfängliche Monographien der Autoren und Autorinnen zum jeweiligen Spezialthema zurück, die teils noch nicht in Deutsch vorliegen. Es wird deutlich, dass man vorsichtig sein muss, allzu sehr die »deut-schen Prägungen« Pacellis zu betonen. Grundlegende Festlegungen brachte er schon aus Rom mit: seinen moderaten Antimodernismus und kurialen Zentralismus, seine Vorliebe für die Neoscholastik und die Jesuiten. Außerdem war seine Wahrnehmung Deutschlands keineswegs nur positiv (schon seit den ersten diplomatischen Gehversuchen noch im Ersten Weltkrieg), sondern ausgesprochen ambivalent: sehr kritisch gegenüber den kulturellen Entwicklungen der 1920er Jahre, aber auch gegenüber dem deutschen Episkopat und Teilen der deutschen Theologie; voll Begeisterung für die deutsche Technik, aber auch für das ordentliche Verhalten der Gläubigen in den Gottesdiensten usw. Noch nach Jahren blieb bei Pacelli ein deutliches »Fremdeln«, das sich u. a. bei den Kontakten Pacellis zeigt (so auch in Teil IV. von Karsten Ruppert aufgezeigt). Folgt man den gut nachvollziehbaren Argumenten in den Beiträgen von Klaus Unterburger und Philippe Chenaux, so nahm Pa­celli nach Rom u. a. die Einsicht mit, das römische System der theologischen Ausbildung erheblich verbessern zu müssen. Dem deutschen Nationalismus aber stand er äußerst reserviert gegen­-über und war geprägt von persönlichen Erfahrungen mit einem kämpferischen Marxismus im Revolutionsjahr 1918/19.
Das im Untertitel formulierte Versprechen, Ansätze für einen in­ternationalen Vergleich zu bieten, lösen die beiden folgenden Teile insgesamt gut ein. So wird es durch Teil III nun ansatzweise möglich, die Nuntiatur Pacellis mit der einiger seiner Kollegen zu vergleichen, die in Deutschland benachbarten Ländern wie Frankreich, Österreich, Polen oder der Tschechoslowakei amtierten. Der Leser erhält in der Addition der einzelnen, von ausgewiesenen Spe­zia­listen verfassten Beiträge einen Überblick zum Nuntiaturwesen der Zwi­schenkriegszeit, den es sonst nicht gibt. Es wird überaus an­schaulich, vor welch große Herausforderungen der Zu­sammenbruch der alten Ordnung die vatikanische Diplomatie ab 1918 stellte, Herausforderungen, die dazu noch selbst zwischen benachbarten Ländern wie Polen oder der Tschechoslowakei erheblich divergierten. Die recht unterschiedliche Intensität der Darstellung, der Ausrichtung auf das gemeinsame Leitthema und der analytischen Tiefenschärfe der Beiträge fällt auf und erschwert eine volle Vergleichbarkeit.
Teil IV beschäftigt sich mit dem Vatikan und den katholischen Parteien in Europa. Der sehr elaborierte Artikel von Karsten Ruppert skizziert die Entwicklung des Zentrums und richtet ein besonderes Augenmerk tatsächlich auf das Verhältnis zwischen dieser Partei, der Kurie, dem deutschen Episkopat und dem katholischen Klerus. Er zeigt prägnant auf, wie locker diese Beziehung insbesondere zu Rom und zum Episkopat war und wie sehr man im Zentrum nach den traumatischen Erfahrungen des späten 19. Jh.s darauf bedacht blieb, Eigenständigkeit zu bewahren, ohne in grundsätzlichen Fragen der Weltanschauung die katholische Basis zu verlassen. Ruppert beschreibt auch exzellent die Probleme, die sowohl der Nuntius als auch die deutschen Bischöfe mit dem gesellschaftlichen Pluralis-mus hatten, während die Zentrumspolitiker bei vielen inhaltlichen Übereinstimmungen in der Summe bedeutend realitätsnäher wa­ren. Dass man aber wechselseitig aufeinander angewiesen war und es zum Zentrum keine Alternative gab, wenn kirchliche Interessen in Deutschland Gehör finden sollten, war bei aller Distanz ebenso dem Nuntius wie den führenden Zentrumspolitikern klar. Der durch den Band ermöglichte direkte Vergleich mit Österreich oder auch Italien zeigt die gravierenden Unterschiede im politischen Ka­tholizismus der Zwischenkriegszeit auf. Der unmittelbare kirchliche Einfluss auf die »katholische Partei« war etwa bei den Christso­zialen in Österreich weit größer, die Begeisterung des Nuntius und Roms für sie deutlich ausgeprägter als gegenüber dem Zentrum. Bemerkenswert erscheint auch die unterschiedlich gewichtige Rolle von Priesterpolitikern. In Österreich (Ignaz Seipel) oder auch in der Tschechoslowakei (Andrej Hlinka; Jan Šrámek) war sie außerordentlich stark, wohingegen Prälat Ludwig Kaas als Vorsitzender des Zentrums eher eine blasse Verlegenheitslösung blieb. Eine bemerkenswerte Koinzidenz in den Beiträgen entsteht im Hinblick auf die ausgeprägte Bereitschaft in Rom zur Zeit Pius XI., autoritäre politische Lösungen zu begünstigen oder wohlwollend zu begleiten. Der Ab­schied von der vorher so hochgelobten christsozialen Partei zugunsten des autoritären katholischen Ständestaats in Österreich in den frühen 1930er Jahren fiel etwa offenkundig weder Rom noch dem Wiener Nuntius noch den österreichischen Bischöfen schwer.
Angesichts der vielen Einsichten wäre es zu wünschen gewesen, dass an einer Stelle des Bandes – sei es in der Einleitung, sei es in einer Schlussbilanz – ein wenigstens punktueller Abgleich der einzelnen Befunde durchgeführt und damit eine erste Synthese hergestellt worden wäre. Dass der Herausgeber zu solchen Synthesen problemlos in der Lage ist, muss nicht eigens betont werden. So aber bleibt es dem Leser oder der zukünftigen Forschung überlassen, zu einer solchen Bilanz zu gelangen. Die Wege dorthin weist der Band und für die Weiterarbeit leisten Orts-, Personal- und Sachregister (die Sachstichworte sind sehr knapp gehalten) Hilfestellungen, für die man dankbar ist.