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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1251–1253

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Legerer, Anton

Titel/Untertitel:

Tatort: Versöhnung. Aktion Sühnezeichen, Friedensdienste in der BRD sowie in der DDR und Gedenkdienst in Österreich.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011. 492 S. m. Tab. Kart. EUR 28,00. ISBN 978-3-374-02868-9.

Rezensent:

Martin Leiner

Das Buch des österreichischen Zeithistorikers Anton Legerer ba­siert auf seiner 2007 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz vorgelegten Dissertation »Schuld, Sühne und Versöhnung nach den nationalsozialistischen Verbrechen in der BRD, DDR und in Österreich«. Das umfangreiche Werk macht zahlreiche Archivquellen dieses Teils der kirchlichen Zeitgeschichte und der Geschichte der Staaten BRD, DDR und Österreich zugänglich. Zusammen mit der 2011 von Hans-Joachim Döring im Auftrag der EKM herausgegebenen Sammlung von Haupttexten von und zu Lothar Kreyssig ist die Basis dafür gelegt, dass die Versöhnungsarbeit der evangelischen Kirchen in beiden deutschen Staaten die ihnen gebührende Stellung in der Geschichtsschreibung einnimmt.
L.s Buch macht deutlich, dass die 1958 als Organisationsstruktur gegründete »Aktion Sühnezeichen« (ASZ) zwar im In- und Ausland sehr bekannt und hoch geachtet ist, diese Arbeit aber nur von wenigen Menschen mit geringen finanziellen Mitteln (s. Liste der Projekte, 488 f.) getragen wurde. Obwohl L. den »theologischen Überbau« (457) der ASZ distanziert und kritisch beurteilt, wird in der Arbeit deutlich, dass für die aus der Bekennenden Kirche kommenden Aktivisten theologische Motivationen tragend waren. Die von Erich Müller-Gangloff angeregte Rede von »Sühnezeichen« vermag die zugrundeliegende Theologie deutlich zu machen. Man verzich­tete bewusst auf die alternativ diskutierte Bezeichnung »Versöhnungszeichen«, weil die Aktion von der »Magnacharta« 2Kor 5,19 f., ausging, wonach die Versöhnung der Welt durch Chris­tus als Wirklichkeit schon gegeben ist. Nach der Bitte Christi in 2Kor 5,20 sollen wir in diese Wirklichkeit eintreten. Ein solches Eintreten in die Versöhnung gelingt aber nur gemeinsam. Als Täter können die Deutschen ihre Opfer in Israel und in den europäischen Nachbarländern nur um Versöhnung bitten. Die Aktivitäten der ASZ können deshalb nicht mehr sein als ein stellvertretendes Zeichen der Bitte um Vergebung. Dieses Zeichen ist stellvertretendes Handeln auch in dem Sinne, dass das deutsche Volk die Bitte um Versöhnung eigentlich in seiner Gesamtheit formulieren müsste. Die Aktivitäten der ASZ sind ausdrücklich keine Wiedergutmachung und setzen ein Sich-Versöhnenlassen der Deutschen voraus, die sich selbst nicht selten auch als Opfer fühlten und fühlen. Dieses differenzierte Versöhnungsdenken wird spätestens seit 1960 nicht nur mit der Versöhnungslehre Karl Barths, sondern auch mit Paul Tillichs Theologie der Heilung verbunden (61).
L. verknüpft in seinem Buch unterschiedliche methodische Zugänge, um die Realität der Arbeit der ASZ näher zu erfassen. In dem auf die Einleitung folgenden ersten Teil analysiert er frühe Aufrufe und Grundlagentexte, um Motivation, Legitimation und Zielsetzung der Aktion zu präzisieren. Der stark theologisch-dogmatische Charakter dieser Texte fällt noch stärker dadurch auf, dass der 1992 gegründete österreichische Gedenkdienst hier nicht viel zu sagen weiß. Der dritte Teil stellt die Lebensläufe von drei zentralen Persönlichkeiten bei der Organisation der ASZ dar: der aus Chemnitz stammende Sachse Lothar Kreyssig, von 1947–1964 hauptamtlicher Präses der Provinzialsynode Sachsen, der Pfälzer Erich Müller-Gangloff, der Gründungsdirektor der Evangelischen Akademie zu Berlin, und der Schlesier Gotthard Kutzner, Regie rungsdirektor im Vertriebenenministerium und seit 1956 SPD-Mitglied. Diese Personen und ihre Netzwerke werden untersucht. In ihnen verbindet sich nach dem Urteil L.s ostdeutsch-aristokratisch-konservativer Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit Bekennender Kirche und dem Milieu des Kreisauer Kreises (108–111.454). In der BRD bewegten sich diese Milieus politisch in Richtung Gewerkschaften und Sozialdemokratie, deren Ostpolitik zur Zeit der Kanzlerschaft Willy Brandts zum Teil ähnliche Ansätze des zeichenhaften Bekennens von Schuld verfolgte. Die Netzwerkanalyse verbindet sich mit Betrachtungen zur Akquise von Freiwilligen und Finanzmitteln sowie mit einer Darstellung der Organisationsgeschichte. Dabei kommen auch andere von Lothar Kreyssig initiierte Organisationen in den Blick. Die »Aktionsgemeinschaft für die Hungernden« (seit 1974: »Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt«), zu der er 1957 aufrief, verband hochrangige Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften (Juden, evange­lische und katholische Christen), Politiker und Vertreter der Finanzwirtschaft. Obwohl nicht sehr erfolgreich, wurde mit der »Aktionsgemeinschaft für die Hungernden« zum ersten Mal in Deutschland der Versuch unternommen, eine von allen Religionsgemeinschaften getragene globale Diakonie mit Verbindungen zu Wirtschaft und Politik aufzubauen (133 f.).
In einem vierten Teil werden Arbeitsfelder und Projekte der ASZ beschrieben. Auch dieser Abschnitt enthält zahlreiche Beschreibungen von weiterreichender Bedeutung wie das Scheitern der Idee eines trikonfessionellen Klosters in Israel (Juden, evangelische und katholische Christen) an der römisch-katholischen Hierarchie oder die Auseinandersetzungen um die unterschiedlichen jüdischen, pol­nischen, kommunistischen Narrative im Zusammenhang mit der In­ternationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz (227–250).
Die Sommer- und Auslandslager der ASZ, die in der DDR trotz der bis in die 1980er Jahre zunehmenden Restriktionen durch die Regierung durchgeführt wurden, werden als »innerkirchlicher Son­derweg« (225–320) eingehend beschrieben. 1969/70 versuchte die DDR-Regierung, die ASZ zu zerschlagen. Zahlreiche Mitarbeiter wie Lothar Kreyssig und Günter Särchen wurden jahrelang von der Staatssicherheit observiert. Ermittelt wurde gegen Personen wie Franz von Hammerstein, Erich Müller-Gangloff oder Volker von Törne wegen staatsfeindlicher Hetze. Gleichzeitig wurde die Aktion Sühnezeichen von zahlreichen inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staats­-sicherheit überwacht und nach der Akteninterpretation von L. auch durch Personen wie den Vorsitzenden der ASZ von 1983–1990 Werner Liedtke (seit 1979 IM Werner, seit 1984 IM Albert) beeinflusst. Liedtke sieht seine Aktivitäten als Schutz der ASZ, die immerhin spätestens 1988 auch die öffentliche Anerkennung der DDR durch den Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi erlangen konnte.
Im VII. Kapitel beschreibt L. die Geschichte der Gedenkdienste in Österreich. Ganz im Zentrum der Darstellung steht der Weg des Gründers der Gedenkdienste, Andreas Maislinger (geb. 1955). Maislinger war durch seine eigenen Erfahrungen mit Freiwilligenarbeit in Polen und Israel geprägt und verfolgte vergangenheitspolitische Ziele wie die Abkehr vom »Opfermythos«, der versucht hatte, Österreicher nur als Opfer, nicht aber auch als Mittäter des Nationalsozialismus in den Blick zu nehmen. Maislinger veröffentlichte zwar in katholischen Zeitschriften, war aber kaum theologisch interessiert. 1992, 1994 und 1998 wurden nach dem Vorbild der praktischen Arbeit der ASZ in Österreich drei Gedenkdienste gegründet, die auch nach der Novellierung des Zivildienstgesetzes von 2001 eine staatliche An­erkennung und Würdigung erfuhren. Die unterschiedlichen Vereine sind der »Verein Gedenkdienst« (1992), der SPÖ-nahe Verein »Niemals Vergessen« (1994) und der »Verein für Dienste im Ausland nach § 12 Zivildienstgesetz« (1998). Zwei Vereine gehen auf Maislinger zu­rück. Nachdem Maislinger als Vorsitzender des 1992 von ihm ge­gründeten Vereins abgewählt worden war, gründete er 1998 den »Verein für Dienste im Ausland nach § 12 ZdG«.