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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1250–1251

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Hutter-Wolandt, Ulrich

Titel/Untertitel:

Glaubenswelten. Aufsätze zur schlesischen und Oberlausitzer Kirchengeschichte.

Verlag:

Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen 2011. 567 S. m. Abb. = Historische Forschungen. Geb. EUR 24,90. ISBN 978-3-88557-230-5.

Rezensent:

Ernst Koch

Ulrich Hutter-Wolandt, bekannt durch bereits 1991 und 1995 veröffentlichte Sammelbände zur schlesischen bzw. oberlausitzischen Kirchengeschichte, legt mit diesem Band einen weiteren Sammelband zur gleichen Thematik vor. Er bietet unter den drei Obertiteln »Biographisches und Wissenschaftsgeschichtliches«, »Regionales« und »Institutionelles« 17 Einzelbeiträge, von denen elf bereits anderswo veröffentlicht worden sind, während sechs weitere hier erstmals dargeboten werden. Das Vorwort teilt mit, dass die bereits veröffentlichten Texte durchgesehen, formal vereinheitlicht und unter Aufnahme neuerer Literatur ergänzt worden sind. Die Breslauer Evangelisch-theologische Fakultät kommt in thematischen Darstellungen zu Ernst Lohmeyer und Herbert Preisker sowie zwei Quellenpublikationen zu Beziehungen Rudolf Bultmanns zu Breslau zur Sprache; als »wesentlich erweitert« wird der ursprünglich 2007 publizierte Beitrag über den Breslauer Neutestamentler Gus­tav Hoennicke vorgestellt.
Insgesamt liegt der Schwerpunkt der Beiträge des Bandes, abgesehen von einem knappen Aufsatz über Kaspar Schwenckfeld, einer mit Abbildungen versehenen Überblicksdarstellung über Kirchen und Religionsgemeinschaften in der schlesischen Oberlausitz seit der Reformationszeit und den Passagen über die Ortsgeschichten, auf der Neuzeit. Eine erstmals 1995 veröffentlichte kirchenbauhis­torische Skizze widmet sich Karl Friedrich Schinkels Bedeutung für Schlesien. Lokalhistorische Studien gelten den oberlausitzischen Orten Rothenburg, Groß Radisch und Förstgen, jeweils unter Einschluss einer unterschiedlich biographisch detaillierten Liste der Ortspfarrer, sowie der Gustav-Adolf-Kirche von Lodenau. Die beiden letztgenannten Aufsätze gehören zu den in diesem Band erstmals veröffentlichten Texten.
Der Geschichte der Diakonie sind zwei Beiträge gewidmet: ein großer Überblick über die Diakonie in Schlesien (mit einer auf das Thema bezogenen Bibliographie) und ein bisher unveröffentlichter Text über die Geschichte des schlesischen Provinzialkrüppelheimes Rothenburg und damit über die Vorgeschichte des Martin-Ulbrich-Hauses, beachtlich in Bezug auf die Passagen, die über die Zeit zwischen 1933 und 1945 berichten. Aus den Quellen beleuchtet wird in einem erneut abgedruckten Aufsatz die Geschichte des schlesischen Gustav-Adolf-Vereins, versehen mit einer Auswahlbibliographie.
Ein erstmals veröffentlichter Beitrag »Region und Regionalgeschichte in der niederschlesischen Oberlausitz«, der über den kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Blickwinkel hinaus einschlägig ist, stellt einen Bericht über die regionalgeschichtliche Publikationstätigkeit nach 1945 dar, mündend in den Bemühungen um die Publikation eines »Heimatbuchs des Niederschlesischen Oberlausitzkreises«.
Neuland betreten zwei mit Quellenpublikationen verbundene Beiträge, die weit über den lokal- und regionalgeschichtlichen Aspekt hinaus von Interesse sind: der Briefwechsel zwischen Ernst und Melie Lohmeyer und Rudolf und Helene Bultmann und unbekannte Quellen zu Bultmanns Berufung nach Breslau im Jahre 1916. Die Edition der 62 kommentierten Stücke des Briefwechsels mit Einleitung und Dokumentation stellt, einschließlich der beigegebenen Abbildungen 120 Druckseiten umfassend, eine eigene kleine Monographie dar, die Quellen zu Bultmanns Berufung nach Breslau, als Ergänzung zum erwähnten Briefwechsel verstanden, geben 16 Einzeltexte wieder, die dem Geheimen Staatsarchiv Berlin entstammen und bisher unbekannt geblieben waren. Bultmanns knapp zwei Jahre umfassende Tätigkeit als außerordentlicher Professor in Breslau endete im Oktober 1920 mit seiner Berufung nach Gießen.
Der Briefwechsel Bultmann-Lohmeyer, im in der Edition aufgeschlüsselten Nachlass Lohmeyers enthalten, stellt eine in mehrfacher Hinsicht bedeutende Quelle nicht nur für die Theologiegeschichte zwischen 1920 und der Erschießung Lohmeyers durch ein sowjetisches Militärkommando am 19. September 1946 dar. Lohmeyers Briefe aus der Zeit seines Militärdienstes im Zweiten Weltkrieg sind ein berührendes menschliches Dokument. Wichtig ist auch, dass die Edition den Briefwechsel zwischen seiner Witwe und dem Ehepaar Bultmann und weitere Dokumente bis 1956 einschließt. Die beiden erstmals veröffentlichten Quellengruppen stellen das Kernstück des vorliegenden Bandes dar.
Es entspricht dem Charakter dieser Aufsatzsammlung, dass sie eine nützliche Zusammenstellung von Texten bietet, die zu weiteren Forschungen anregt, um dann auch weitere Aspekte erschließen zu können. Zu begrüßen ist die große Zahl von Biogrammen, zu bedauern das Fehlen von Registern. Wohl lässt sich fragen, ob z. B. die – notgedrungen oft unvollständigen – bibliographischen Auflistungen von Veröffentlichungen erwähnter Personen in Fußnoten notwendig gewesen wären. Auch über manche vom Vf. vertretene Wertung ließe sich streiten: z. B. über diejenige, die wohl noch immer Zustimmung findet, aber die Sachverhalte verkürzt, indem sie unter Berufung auf Luthers berühmte Torgauer Predigt be­hauptet, ein Kirchenbau sei »nach evangelischer Lehre« nichts weiter als ein Versammlungsraum der Gemeinde (19). Es verwundert, dass in dem Beitrag zu Karl Friedrich Schinkels Bedeutung für den Kirchenbau dessen Vorentwurf für die Kirche in Kunnerwitz bei Görlitz nicht erwähnt wird. Zu bedauern ist die mehrfach in ihrer Qualität bescheidene Wiedergabe einer Fülle von höchst begrüßenswerten historischen Fotographien. (Hinzuweisen ist auf zwei Druckfehler, die Eigennamen betreffen: S. 362, Z. 4 von unten muss es heißen: Ebersbach, S. 393 Z. 9: Weichert.)
Der Band dürfte eine große Bandbreite von interessierten Lesern finden, solche, die nach ersten Informationen und Überblicken zu den behandelten Themen fragen, aber auch Fachleute, die partiell höchst willkommene Einstiege in unterschiedliche Problemkreise oder auch sonst nirgendwo greifbar veröffentlichte Quellen finden werden. Vielleicht besteht in dieser in sich unterschiedlichen Qualität eine Schwierigkeit für die Rezeption des Bandes. Dem Vf. ist für die Arbeit zu danken, von der seine Beiträge zeugen.