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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1243–1246

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Leppin, Volker

Titel/Untertitel:

Geschichte des mittelalterlichen Christentums.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XV, 459 S. = Neue Theologische Grundrisse. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-16-150677-2.

Rezensent:

Michael Borgolte

Schon als dritten Beitrag seiner neuen »theologischen Grundrisse« präsentiert der Verlag Mohr Siebeck mit der »Geschichte des mittelalterlichen Christentums« durch den Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin ein historiographisches Standardwerk. Obwohl sich L. fast ausschließlich auf die lateinische Kirche beschränkt, also die griechische Orthodoxie sowie die sogenannten Ostkirchen nur am Rande berührt und die Wechselwirkungen der Christen mit Juden und Muslimen ausklammert, bietet sein Buch mit der Darstellung von der »Völkerwanderung« bis zur Reformation im chronologischen Umfang etwas bisher Einmaliges. Motiviert hat er sein Vorhaben als nachholende evangelische Selbstaufklärung.
Seit Luther sei die Zeit von der ausgehenden Antike an »als eine langdauernde Phase des Abfalls vom rechten Glauben der ersten Jahrhunderte«, als »Epoche des Antichristen« betrachtet worden, der die Reformation ihr Ziel der Erneuerung entgegengesetzt habe (2 f.). Bis in jüngste Zeit sei das mittelalterliche Jahrtausend deshalb weithin eine Domäne katholischer Historiker geblieben, aber jetzt gehe es darum zu erkennen, dass vieles in den evangelischen Kirchen fortgeführt werde, was schon im Mittelalter Theologie und Frömmigkeit bestimmt habe: »Blickt man auf diese vielfältigen Wurzeln auch des evangelischen Christentums im Mittelalter, so wird deutlich, dass es gute Gründe gibt, das Mittelalter als Teil der eigenen Geschichte anzusehen, ja, jede andere Perspektive wäre geradezu abwegig und würde den sachlichen Kern des Christentums und seiner Geschichte aus dem Blick verlieren […]. Es war ein Fehler und wäre heute weiterhin ein Fehler, allein die neuzeitliche römisch-katholische Kirche in der Nachfolge der katholischen Kirche des Mittelalters zu sehen […]. Das Mittelalter ist der gemeinsame Teil unterschiedlicher Geschichten.« (10)
Der Allgemeinhistoriker nimmt diese Positionsbestimmung verwundert zur Kenntnis, da er aus seiner Lehr- und Forschungspraxis konfessionelle Implikationen der Urteilsbildung kaum wahrzunehmen vermag; anders als L. andeutet, haben bekennende Protestanten auch wichtigste Beiträge zur jüngsten Mediävistik geleistet. Manche von ihnen schrieben sich – leicht selbstironisch – sogar eine besondere »Faszination durch die Papstgeschichte« zu (Harald Zimmermann, Horst Fuhrmann). Irritierend ist auch L.s Absicht, bei aller Abwendung von alten protestantischen Vorurteilen an der teleologischen Ausrichtung von Geschichtsschreibung festzuhalten und nach Anfängen heutiger religiöser Wirklichkeiten im Mittelalter zu fragen. Wissen wir nicht längst, dass der Entwicklungsgedanke für geschichtliche Prozesse nicht taugt und stattdessen nur vom (richtungslosen) historischen Wandel die Re­de sein kann?
Interessant ist hier der Vergleich mit dem bedeutendsten kirchengeschichtlichen Werk der deutschen »profanhistorischen« Mittelalterforschung am Ende des letzten Jh.s. Der Autor, Gerd Tellenbach, bekannte sich als evangelischer Christ zur göttlichen Lenkung der Geschichte, die freilich kein Ziel wissenschaftlicher Forschung sein könne: »Die Kirchengeschichte bedarf keiner menschlichen Fürsprecher. Ebenso verliert der berühmte Streit, ob im Verlauf der Kirchengeschichte ein Fortschritt und eine Entfaltung von der Urkirche her oder ein Abfall zu sehen sei, seinen Sinn. Denn alles Auf und Ab vollzieht sich letztlich nach göttlichem Heilsplan« (G. T., Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert. Göttingen 1988, S. F 1). Wie Ranke, für den jede Epoche »unmittelbar zu Gott« war, ließ sich Tellenbach also vom Eigenrecht historischer Perioden leiten.
L. ist ein Experte für Spätmittelalter und Reformationszeit, hatte aber seine Darstellung mit dem Übergang von der Antike zum Mittelalter zu beginnen. Da er diese Zeit mit ihren Forschungslagen nicht beherrschte, verwickelte er sich in undurchschaute Abhängigkeiten und gab seinem Buch einen fatalen Auftakt. Die ältere Forschung verband die sogenannte Völkerwanderung mit der These einer »Germanisierung des Christentums«, während man in jüngster Zeit dazu neigt, bei der »Transformation der Antike« eine fast vollständige Romanisierung der Barbaren anzunehmen. L. lehnt die ideologische Germanisierungsthese selbstverständlich ab und weiß auch, dass die Fremdbezeichnung der »Germanen« keinem erkennbaren Eigenbewusstsein einer germanischen Großgruppe entsprochen hat. Trotzdem stellte er den Römern stets »die Germanen« statt begrenzter gotischer, langobardischer oder fränkischer Gruppen gegenüber und schrieb diesen im Sinne der Katas­trophentheorie die Zerstörung des antiken Erbes zu. Unberück­sichtigt bleibt dabei der selbstinduzierte Zerfall der römischen Provinzialkultur, der durch Aufnahme barbarischer Heiden vor jeder Masseneinwanderung teilweise aufgehalten, teilweise be­schleunigt worden war.
Auch die Traditionen der Alten Kirche seien dem Einfall der Germanen sowie dem Einfluss der Kelten zum Opfer gefallen. So sei die Eucharistie nun nicht mehr als Danksagung, sondern zunehmend als Opfer verstanden worden, an das sich die Erwartung einer Gegenleistung Gottes knüpfte. Die Betonung der Realpräsenz Christi in den Elementen der Messhandlung, die der Kirchenvater Augustinus (gest. 430) noch nicht gekannt hatte, habe eine »Verdinglichung« zur Folge gehabt, die die eucharistischen Gaben und damit Christus selbst zu einem Gegenstand machte, der zum Wohle der Kirche wie auch des Einzelnen eingesetzt werden konnte. Die Messe sei somit in den Zusammenhang von Leistung und Gegenleistung eingerückt und habe dem Priester eine kommunikative Zwischenstellung zwischen Christus und der Gemeinde verschafft. L. übersieht hier freilich, dass das eucharistische Mahl, und zwar schon in einer Tradition, die auf die Kirchenväter zurückgeht, als Ersatz für das heid­-nische Totenmahl konzipiert war, das keineswegs, wie er glaubt, spezifisch germanisch war, sondern gerade unter heidnischen Rö­mern im Mittelpunkt des Totenkults gestanden hatte.
Was das Bußwesen betrifft, hat L. zu Recht den Iren eine entscheidende Wandlung zugeschrieben; anstelle nach neutestamentlicher Überlieferung und patristischer Tradition eine Handlung aufgrund ihrer Intention als Sünde zu qualifizieren, trat nun die Tat selbst als Verfehlung in den Vordergrund, die geradezu nach einem tariflichen System bestraft wurde. Zwar sei damit eine religiöse Durchdringung der Gesellschaft intendiert gewesen, doch bei geringer Berücksichtigung der individuellen Bedingungen der Sünde »konnte eine innere Hinwendung zum Christentum nicht erreicht werden. Doch kann man in der Entwicklung des neuen Bußverständnisses«, folgert L., »Ansatzpunkte für das sehen, was Jahrhunderte später den reformatorischen Protest auslöste, der sich bei seinem ersten Aufkommen in den Ablassthesen vom 31. Ok­tober 1517 genau gegen das Bußverständnis richtete« (91). Mit diesem Gedankengang war genau das Schema reetabliert, das eigentlich keine seriöse Geschichtsschreibung mehr zulässt: Dass der Abfall vom ursprünglich Guten unumkehrbare Folgen für jahrhundertelange Zustände gehabt habe, bis ein revolutionärer Prozess – hier die Reformation – auf die glücklichen Anfänge zu­rück­lenkte.
Wer L.s Buch nach dem missglückten Auftakt aus der Hand legen wollte, täte L. jedoch Unrecht. Denn in allen Kapiteln, die auf die »Genese der christlichen Gesellschaft des lateinischen Mittelalters« folgen, vermeidet L. anachronistische Wertungen. Im Gegensatz zu seiner anfangs dargelegten Intention versucht er nicht einmal, jene Züge des mittelalterlichen Christentums herauszuarbeiten, auf die sich protestantische Kirchen und evangelische Frömmigkeit der neueren Zeiten berufen könnten. Weder stilisiert er den radikalen Asketen Arnold von Brescia (gest. ca. 1155) noch Katharer oder Waldenser zu Vorläufern oder Geistesverwandten der Reformatoren; mit erstaunlicher Souveränität urteilt er über den Fiskalismus des Papsttums in Avignon und schreibt sogar den moralisch unrettbaren Renaissancepäpsten ihre großen Leistungen als Mäzene von Baukunst und Malerei zugute. Aus seiner Darstellung lässt sich nicht einmal ableiten, ob und weshalb es zur Reformation kommen musste. L. beschränkt sich auf die Feststellung, dass am Beginn des 16. Jh.s eine innerkirchliche Pluralität durch eine Vervielfachung der Kirchentümer abgelöst worden sei. Ganz anders, als er am Beginn geschrieben hatte, mündete sein Werk also in einer historistischen Darstellung, wie sie schon Ranke oder Tellenbach beabsichtigt haben. Ob sein Buch deshalb aber noch die ihm zugedachte Rolle im evangelisch-theologischen Studium erfüllen kann?