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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1238–1239

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Parker, David C.

Titel/Untertitel:

Textual Scholarship and the Making of the New Testament. The Lyell Lectures Oxford. Trinity Term 2011.

Verlag:

Oxford: Oxford University Press 2012. 186 S. m. Abb. Lw. £ 20,00. ISBN 978-0-19-965781-0.

Rezensent:

Eberhard Güting

Der Band präsentiert die 2011 von David C. Parker in Oxford vorgetragenen angesehenen Lyell Lectures in Bibliography. Der Vf. ist Edward Cadbury Professor of Theology an der Universität Birmingham und Direktor des dortigen »Institute for Textual Schol­arship and Electronic Editing«.
Bestimmend für die Vorlesungen ist die streng durchgehaltene Form der mündlichen Rede. Einem Leser fallen erhebliche Redundanzen auf. Doch ist der gesamte Textduktus von einer eindrucksvollen und gepflegten Rhetorik geprägt. Der Vf. erstrebt eine grundlegende Umorientierung der neutestamentlichen Textforschung, ihrer Interessen und ihrer Bewertungen (20–21). In Ab­grenzung zu seinem Vorgänger als Lyell Lecturer 1959, dem amerikanischen Literaturkritiker, Editor und Bibliographen Fredson Bowers, sucht der Vf. die Veränderungen zu bestimmen, die im digitalen Zeitalter erforderlich sind. Der Begriff Text ist zu präzisieren. Nur in einer Hierarchie von Begriffen kann er bestimmt verwendet werden: Dokumente zeigen Texte, Texte repräsentieren Werke in jeweils einer bestimmten Form (10–14.29).
Der Vf. hebt hervor, dass viele Jahrhunderte lang handgeschriebene Rollen und Kodizes den antiken Lesern und Hörern in einer variablen Form begegneten, dass orality noch lange die Überlieferung prägte. Mit einer konstruktivistischen Hermeneutik sucht der Vf. den An­schluss an den antiken Umgang mit Texten. »I proposed the view that the work is not identical with the text of a critical edition, the Initial Text, but is found in the sum total of the ways in which it has been transmitted – the entire textual flow.« (144)
Der Vf. nennt vier traditionelle Fehleinstellungen einer philologisch orientierten Textforschung (14–18). Erstens, die Identifizierung von Autoren neutestamentlicher Schriften, die er als autho­rial fallacy bezeichnet (26–29.122.143). Zweitens, die Befassung mit »Werken«. Angesichts einer in früher Zeit durchgehend variablen mündlichen Überlieferung lautet die These des Vf.s: »That every written work is a process and not an object« (21). Drittens, die Obsession des Philologen mit den Aufgaben einer korrekten Textherstellung. Der Vf. gibt demgegenüber antiker »Pluriformität« von Texten den Vorzug (25). Viertens, Vorgänge des Edierens, die bei der Zusammenführung von antiken Textsammlungen erforderlich waren, sind geeignet, die Fixierung der ursprünglichen Form als vergebliches Mühen hinzustellen (17).
Die überlieferte Verzeichnung neutestamentlicher Zeugen konzentriert sich darauf, Gregory folgend, die Fülle zu ordnen. Maßgeblich ist Alands Kurzgefasste Liste (2. Auflage, 1994). Der Vf. hingegen richtet sein Augenmerk darauf, die Anomalien in der Verzeichnung und Nichtverzeichnung des vielgestaltig Überlieferten kenntlich zu machen. Fortlaufende Texte und Exzerpte, Katenen und Kommentarhandschriften, Talismane, Ostraka und Lektio­nare werfen Probleme auf und eröffnen Forschungsvorhaben. In­zwischen bietet der Virtual Manuscript Room Hyperlinks, die alle Listen in den Schatten stellen (60).
Die von Gerd Mink in Münster entwickelte Kohärenzbasierte lokalgenealogische Methode ist wiederholt dargestellt worden. Der Vf. stellt sie auf dem Hintergrund der Methodik früherer Editoren vor. Dabei wird deutlich, inwiefern sie früheren Verfahren gegenüber überlegen ist. Sie analysiert grundsätzlich sämtliche Daten aller griechischen Zeugen und bedient sich dabei der Möglichkeiten des Rechners (94–95). Der textual flow jedes Zeugen, die Verwandtschaft der bezeugten Texte unter der Voraussetzung häufiger Kontamination wird in sorgfältiger Untersuchung bestimmt. Erst jetzt und auf diese Weise lässt sich eine Stemmatik nach Art Lachmanns durchführen (84). Sie ist und bleibt allerdings ein Konstrukt, eine Annäherung.
Die beiden letzten Vorlesungen stellen das Projekt der im Er­scheinen begriffenen Editio Critica Maior vor, deren Vollendung im Jahr 2032 erwartet wird. Text und Apparat sollen den ermittelten Ausgangstext, vollständige Variantenapparate sowie Rechtfertigungen für sämtliche editorische Entscheidungen digital und in gedruckter Form präsentieren. – Den Band beschließen Endnoten, eine vorzügliche Bibliographie und Indizes.
Angesichts dieser eindrucksvoll vorgetragenen Position sind kritische Hinweise erforderlich. Der Vf. überzieht, wie mir scheint, bestimmte Erkenntnisse, die unter Textkritikern nicht strittig sind. Die frühe Überlieferung des 2. Jh.s hat zwar erkennbare Schäden angerichtet, doch verliert man ein wichtiges Korrektiv, wenn man auf die Erforschung der Sprache neutestamentlicher Autoren verzichtet. An ihr gewinnt Philologie ihr Maß. Emendationen sind im Neuen Testament dem Vf. nach unangebracht (6). Sind sie das?