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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1234–1236

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mutschler, Bernhard

Titel/Untertitel:

Glaube in den Pastoralbriefen. Pistis als Mitte christlicher Existenz.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2010. XVIII, 469 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 256. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150544-7.

Rezensent:

Hermann von Lips

Mit der Arbeit »Glaube in den Pastoralbriefen« liegt die Habilitationsschrift von Bernhard Mutschler vor, die im Wintersemester 2007/8 bei der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg eingereicht wurde. Die Arbeit widmet sich erstmals speziell dem Glaubensbegriff der Pastoralbriefe, nachdem dieser natürlich früher schon in verschiedenen Zusammenhängen bearbeitet wurde.
Während der erste Teil eine Annäherung an die Untersuchung des Begriffs darstellt (»Geschichte, Begriffe und Überlegungen im Vorfeld einer exegetischen Untersuchung von »Glaube« in den Pas­toralbriefen«; 3–111), wird im zweiten Teil die »exegetische Untersuchung der Wortfamilie pistis ktl. im Corpus Pastorale« durchgeführt (113–382). Abschließend folgen ein Resümee (Glaube in den Pastoralbriefen – pistis als Mitte christlicher Existenz; 383–405) sowie Literaturverzeichnis (407–433) und Register (435–469).
Kapitel 1 bietet einen Überblick über die »Forschungsgeschichte seit Heinrich Julius Holtzmann und Adolf Schlatter«. Mit den beiden Namen sind die Exponenten der konträren Hauptrichtungen der Auslegungsgeschichte benannt, nämlich der Vertreter paulinischer Verfasserschaft und der Vertreter der pseudepigraphischen Abfassung. Ein eigener Schwerpunkt wird der Interpretation der »Wendung oder Formel« pistos o logos gewidmet. M. versucht ein Fazit aus der Forschungsgeschichte zu ziehen: zum einen terminologischer Art, indem der Glaube durchgehend in einen subjektiven, einen objektiven und einen ethischen Aspekt differenziert wird; zum anderen, dass die Autoren, die die Pastoralbriefe historisch eng an Paulus anbinden, auch den Glaubensbegriff »im Einklang mit dem paulinischen beurteilen«, dagegen diejenigen, die die Pastoralbriefe in großem historischem Abstand sehen, den Einklang als gering einschätzen.
Im 2. Kapitel (Glaube, pistis, fides – über Stellenwert, Herkunft und Bedeutung(en) eines christlichen Allgemeinbegriffs) wird der dreifache Hintergrund unseres Glaubensbegriffs entfaltet: zu­nächst im Deutschen die Rückfrage nach Etymologie und Bedeutung in den germanischen Sprachen. Sodann wird im Griechischen der Zusammenhang von pistis mit peitestai dargestellt und auch die vorneutestamentliche religiöse Prägung von pistis und pisteuein gezeigt. Im Lateinischen findet sich die Besonderheit, dass die zwei Stämme fides und credere, obwohl etymologisch nicht verwandt, inhaltlich fast vollständig den gleichen Bereich abdecken.
Kapitel 3 widmet sich den drei Bezeichnungen, die alternativ für die drei Briefe an Timotheus und Titus verwendet werden. Die Briefe hatten bereits im Mittelalter (Thomas von Aquin) die Bezeichnung als pastoralis bekommen, bevor dann zu Beginn des 18. Jh.s mit Vorstufen der Ausdruck »Pastoralbriefe« Anwendung fand. In neuer Zeit wurde dann die Bezeichnung »Corpus Pastorale« geprägt (Peter Trummer 1981), die dann auch Verbreitung findet, sowie der Begriff der »Tritopaulinen« (Wolfgang Schenk 1987), der sich aber nicht durchsetzte. Bei der Frage, ob die Briefe einzeln oder als Corpus zu sehen sind, tendiert der Vf. zu Letzterem.
Kapitel 4 nähert sich nun speziell der Frage nach pistis. Es wird das Vorkommen der Wortgruppe pistis in den Pastoralbriefen aufgeschlüsselt (Tabelle 2) ebenso wie die Bezugspersonen, die sich insgesamt finden (Tabelle 3). Danach wird das weitere Vorgehen erläutert: Es soll eine »paradigmatische Auslegung« (104) eines Ab­schnitts erfolgen sowie die »Auslegung jedes einzelnen Belegs« (105 ff.) in den drei Briefen.
Der zweite Teil ist ganz der »Exegetischen Untersuchung der Wortfamilie pistis ktl im Corpus Pastorale« gewidmet. Von 290 Seiten, die die exegetische Untersuchung umfasst, gelten 100 Seiten allein dem Präskript des Titusbriefes (Tit 1,1–4, Kapitel 5)! Dieser Text wird mit einer »paradigmatischen Auslegung« (104) oder »exemplarischen Interpretation« (116) erfasst. Der Text wird in al­len Einzelheiten und mit äußerster Intensität ausgelegt. Von 16 »Tabellen«, die aufschlussreiche Auflistungen des Vorkommens einzelner Vokabeln enthalten, sind in diesem exegetischen Teil allein sechs enthalten. Noch auffälliger finden sich von 13 »Überblicken« (die merkwürdigerweise nicht, wie in sonstiger exegetischer Literatur, »Exkurse« genannt werden) neun in diesem Teil der Arbeit. Schon diese formale Beobachtung zeigt, wie sehr dem Vf. daran liegt, pistis in seinen Kontexten von allen Seiten zu beleuchten.
Prägnant ist dieses Präskript dadurch herausgehoben, dass es allein innerhalb des Corpus Paulinum mehrere Belege von pistis/ pisteuein enthält; ebenso, dass nur hier (und in Röm) »Paulus« sich mit dem Hoheitstitel »Apostel« und dem Niedrigkeitstitel »Sklave« bezeichnet. Also können auch die übrigen Aussagen als gewichtig gelten. So wird pistis verbunden mit der »Wahrheitserkenntnis«, einer »für das Corpus Pastorale typische[n] Prägung« (204). Der verwendete Begriff epignosis scheint Indiz einer »Vermeidungsstrategie gegenüber gnosis« zu sein (vgl. 1Tim 6,20; 205). Der Bezug auf eusebeia bringt das in Past besonders häufige Wort zum Zuge, das insofern alternativ zu pistis verwendet wird, als es wie dieses »das Christsein als Ganzes charakterisieren« kann, insgesamt aber mehr die lebenspraktische, verhaltensmäßige Seite« betont.
Ebenfalls markant wird im Präskript pisteuestai im Passivum divinum verwendet (ebenso 1Tim 1,11) und schließt sich damit an den Gebrauch in den authentischen Paulusbriefen an (4 Mal). Es geht jeweils um eine Tätigkeit oder um eine Funktion, mit der Gott jemanden »betraut«, »anvertraut«. Im vorliegenden Text wird das »Anvertrautwerden« mit theologischen Akzenten des Paulus, wenn auch mit anderen Worten, unterstützt (208). Der beauftragende Gott qualifiziert die von ihm stammende Verkündigung als »Heil«, indem er selbst als soter bestimmt ist (210). Auffällig ist, dass ge­-genüber dem originalen Paulus jeweils der Verbform ein ego nachgestellt wird, womit die wichtige Autoritätsstellung des Briefabsenders (= des fiktiven Paulus) betont wird. Somit »entsteht« hier »der Eindruck einer exklusiven und einmaligen Stellung des ›Paulus‹ gegenüber den Gemeinden« (207). – Ohne inhaltliche Präzisierung wird pistis im Präskript nochmals verwendet »als Rahmenbegriff für alles, was christlich ist« (213). Hier geht es um die Gemeinsamkeit, die die Gemeinden, Paulus und Titus verbindet.
Die weiteren Kapitel 6–8 analysieren die Wortgruppe pistis ktl jetzt im ganzen Titusbrief, dann im 1. und 2. Timotheusbrief. Jeweils erfolgt die Analyse in der Dreiteilung nach pistis = Glaube, pistis = Treue sowie das Adjektiv pistos = zuverlässig. Die größte Breite der Verwendung zeigt naheliegend der 1Tim als längster Brief. Zunächst kommt pistis als Rahmenbegriff in den Blick, dann wird gezeigt, wo pistis mit »Lehre« parallel steht. Umfangreich ist die Verwendung von pistis als »Habitus«. Besonders prägnant kommt in diesem Brief die negative Sicht zum Zuge: »Unglaube« und »Ungläubigsein« werden sichtbar, vor allem aber geht es hier auch um den »Abfall vom Glauben«.
Wichtig ist das abschließende Resümee, das gründlich und aufschlussreich noch einmal die ganze Vielschichtigkeit des Begriffskomplexes deutlich werden lässt. Zentral ist die Beobachtung, dass pistis für die »fundamentale Grundrelation zwischen Gott und Mensch« steht, was auf Seiten des Menschen vor allem das »Vertrauen« ist, auf Seiten Gottes und Christi die »Treue zu den ihm vertrauenden Menschen«. In der Auswirkung für den Menschen ist pistis »ein lebensbestimmendes, nämlich die Mitte des Lebens und das soziale Leben bestimmendes Glaubensverständnis« (398). Des Weiteren gilt: pistis bezeichnet die »Kerndimension des Christseins« und somit die »Mitte christlicher Existenz« (400).
Auch wenn eine andere Schwerpunktsetzung denkbar gewesen wäre (Warum die Etymologie von pistis im Deutschen und Lateinischen? Warum die Heraushebung eines Präskripts?): Für die Analyse eines Einzelbegriffs ist ein Mehr an exegetischem, textinternem Material kaum denkbar, als es in dieser Arbeit vorgelegt wird.