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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1228–1230

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Leineweber, Matthias

Titel/Untertitel:

Lukas und die Witwen. Eine Botschaft an die Gemeinden in der hellenistisch-römischen Gesellschaft.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Peter Lang 2011. 284 S. = Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie, 915. EUR 49,80. ISBN 978-3-631-61147-0.

Rezensent:

Lukas Bormann

Die Frage, ob die Rechte von Witwen und Waisen geschützt und respektiert werden, gilt als zentrales Kriterium für eine biblische Gesellschaftsanalyse. Dabei steht der genannte Personenkreis beispielhaft für den prekären sozialen und rechtlichen Status derer, die keinen einflussreichen (männlichen) Rechtsvertreter haben (Ehemann, Vater, Vormund), der ihre Rechte innerhalb der patriarchalen Gesellschaft engagiert vertritt. Auch in der Verkündigung Jesu ist der Umgang mit Witwen ein Gradmesser für den sozialen und rechtlichen Zustand einer Gesellschaft (Lk 18,2–5; Mk 12,38–40/Lk 20,46 f.). Gilt das aber in gleicher Weise für die christologisch geprägte neutestamentliche Überlieferung, die sich zunehmend mit einer hellenistisch-römischen Umwelt auseinanderzusetzen hat? Die von B. Heininger, Würzburg, betreute und im Wintersemester 2009/2010 abgeschlossene Promotionsschrift von Matthias Leineweber stellt sich die Aufgabe, diese Frage in Bezug auf das lukanische Schrifttum zu beantworten. Die Untersuchung behandelt die hebräische Bibel und das antike Judentum nur knapp (57–63) und wählt als Ausgangs- und Zielpunkt der Analyse die helle­nistisch-römische Welt.
In Kapitel I, dem Forschungsüberblick (17–42), wird deutlich, dass die neutestamentliche Diskussion der »Witwen« auch Problemkreise jenseits der Sozialfürsorge zu bedenken hat. In den Pastoralbriefen ist von Witwen und Jungfrauen die Rede, die als Statusgruppen mit bestimmten Funktionen in der Gemeinde verstanden werden. Der Vf. referiert die damit verbunden Fragen, ohne sie weiter zu verfolgen. Ob hier die konfessionelle Tradition eine Verengung der Perspektive bewirkt? Bekanntlich gehören das Amt der Frau und die Stellung Marias, der Mutter Jesu, zu den Themen, die die römische Glaubenskongregation in neutestamentlichen Arbeiten besonders aufmerksam verfolgt. Die Untersuchung spart diese Themenkreise aus und verzichtet damit auf die Behandlung eines wesentlichen Teils der Gemeindewirklichkeit, die sich in den neutestamentlichen Texten über Witwen widerspiegelt.
Kapitel II trägt den Titel »Zur sozialen Lage der Witwe in der Antike« (43–66). »Witwen« machten etwa 25–30 % der weiblichen Bevölkerung antiker Gesellschaften aus (43). Sie waren in der Regel alt und von Armut bedroht (43–46). Im Gegensatz zum Judentum und Christentum (57–66) kannte die hellenistisch-römische Welt weder Witwenversorgung noch eine Sensibilität für die Lage dieser marginalisierten gesellschaftlichen Gruppe.
Kapitel III, »Witwentexte im Lukasevangelium« (67–191), behandelt die Texte, in denen das Lexem »Witwe« (χήρα) vorkommt, und zwar in Bezug auf Hanna in Lk 2,36–38 (67–95), die Witwe von Sarepta in 4,25–26 (97–109), die verwitwete Mutter des Jünglings zu Nain in 7,11–17 (111–144), die Witwe im Gleichnis vom ungerechten Richter in 18,1–8 (145–168), die Witwen als Opfer der Schriftgelehrten in 20,45–47 (169–180) und die arme Witwe im Tempel in 21,1–4 (181–191). Die Aufstellung macht deutlich, dass die ausgewählten Texte sehr unterschiedlichen Textsorten angehören und nicht zwingend als »Witwentexte« verstanden werden können. Der Vf. untersucht sorgfältig, aber auch etwas schematisch und deswegen nicht frei von Wiederholungen, die mit den Texten aufgeworfenen exege­tischen Fragen, erarbeitet dann eine »lukanische Perspektive« und schließt mit der Profilierung des ethischen oder theologischen Appells, den er in den Texten findet, z. B. »Die Gabe der Witwe als Hinweis auf die Hingabe Jesu?« (190 f.). Nicht jedes Detail überzeugt, etwa wenn bei der Erörterung der Erlösungsvorstellung zwar die Belege für λύτρωσις, nicht aber die für ἀπολύτρωσις (Lk21,28) herangezogen werden (91 f.). Texte, in denen Frauen vorkommen, die zwar Witwen sind, nicht aber mit dem Wort χήρα bezeichnet werden, bleiben unerörtert (z. B. Lk 20,27–36).
In Kapitel IV, »Witwentexte in der Apostelgeschichte« (193–232), werden nur die zwei Texte behandelt, in denen das Lexem »Witwe« vorkommt. Damit rücken der Abschnitt zur Witwenversorgung in Apg 6,1–7 (193–215) und die Episode der Witwen um die »Jüngerin« (μαθήτρια, Hapaxlegomenon im Neuen Testament) Tabitha in 9,36–43 (217–232) in den Mittelpunkt. Alleinstehende Frauen, die in der Apg eine nicht unbedeutende Rolle spielen, aber nicht ausdrücklich als »Witwe« bezeichnet werden, bleiben auch hier außen vor. Die Gruppe der Witwen in Apg 9,36–43, die dort zwei Mal als »(alle) Witwen« bezeichnet werden und als Repräsentantinnen einer gemeindlichen Statusgruppe zu verstehen sind, werden als Ob­jekte der vorbildlichen Wohltätigkeit der Tabitha und deren Fürsorge interpretiert. Die Verhältnisse in Jaffa gelten dem Vf. als ein »Integrationsmodell von Bedürftigen« (231) und seien die lukanische Antwort auf die Konflikte um die Witwenversorgung in Jerusalem (6,1–7).
In Kapitel V, »Narratologische Analyse« (233–248), werden ab­schließend noch einmal alle Texte mit dem analytischen Instrumentarium Gérard Genettes durchgearbeitet. Genettes Narratologie wurde aus der Analyse des modernen europäischen Romans, in dem die Rolle des Erzählers von besonderer Bedeutung ist, entwi-ckelt. Die von ihm ausgebildete Terminologie ist deswegen weit komplexer angelegt, als es die narrative Analyse neutestamentlicher Texte erfordert. Sie erlaubt es dem Vf., zwei Erzählebenen, eine »extradiegetisch-heterodiegetische« und eine »intradiegetisch-heterodiegetische«, zu unterscheiden – der Rezensent würde etwas einfacher von Erzählung und erzählter Erzählung sprechen. Daraus leitet der Vf. immerhin die Schlussfolgerung ab, dass Lukas die Witwenthematik in 4,25–26; 18,1–8 und 20,45–47 bewusst auf die Verkündigung Jesu zurückführen möchte (247).
Als Ergebnis der Untersuchungen wird festgehalten (249–254), Lukas wolle vor dem Hintergrund der biblischen Witwenfürsorge auf die problematische Situation der »heidnischen Witwen« aufmerksam machen und die Leserinnen und Leser für die »Bedürftigkeit der Witwen sensibilisieren« (252). Die Gemeinden sollten nach Lukas in den Witwen eine »Chance« erkennen, sich für sie »öffnen«, in ihnen ein »Vorbild für die Gläubigen« und in der hingebungsvollen Lebensweise der Witwen ein Zeichen für die »Lebenshingabe Jesu« sehen (253).
Die Arbeit überzeugt durch die breite Einbeziehung sozialgeschichtlich relevanter Quellen und durch die sorgfältige Herausarbeitung der Bezugnahmen der lukanischen Darstellung auf alttes­tamentliche und antik-jüdische Vorbilder. Vertiefte Fragen, die die Stellung der Frau, das Witwenamt in den frühen Gemeinden und die Rolle der Mutter Jesu, die doch mit einiger historischer Wahrscheinlichkeit ebenfalls Witwe gewesen ist (Lk 8,19–21; Apg 1,14), betreffen, werden jedoch nicht weiter verfolgt. Die Hauptthese, dass Lukas in den »Witwentexten« vor allem die Situation der Witwen in der hellenistisch-römischen Welt reflektiere, ist so allgemein gehalten, dass sowohl Kritik als auch begründete Zustimmung schwer fallen. Das hilfreiche Stellenregister wird jeder Leser dankbar in Anspruch nehmen.