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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

525–527

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Burandt, Christian Bogislav

Titel/Untertitel:

Der eine Glaube zu allen Zeiten. Luthers Sicht der Geschichte aufgrund der Operationes in Psalmos 1519-1521.

Verlag:

Münster: Lit 1997. XIII, 287 S. 8 = Hamburger Theologische Studien, 14. Kart. DM 48,80. ISBN 3-8258-3007-1.

Rezensent:

Volker Gummelt

Luthers Sicht der Geschichte ist ein vielfach und breit bearbeitetes Thema. Mehr oder weniger war man sich dabei der stets unausweichlichen Problematik bewußt, mit "Geschichte" einen Begriff und Sachverhalt an Luthers Werk anzulegen, den jener in der heute allgemein geläufigen Bedeutung nicht kannte.

Burandt konzentrierte sich bei seiner Dissertation (Hamburg 1995) zeitlich gesehen auf die Untersuchung der Jahre 1519 bis 1521, auf die "heroische Phase" der Reformation (H. A. Oberman). Mit Luthers zweiter Psalmenvorlesung nahm er sich einen Text zur Grundlage, der diesen als Schriftausleger, also "auf dem Gebiet seiner ureigensten Profession befragt" (1). Seit dem Erscheinen des ersten Teiles der Neuedition der "Operationes in psalmos" (AWA Bd. 2, hrsg. v. G. Hammer u. a., Köln 1981) liegt dazu eine moderne Ausgabe vor, ergänzt durch eine historisch-theologische Einleitung (ebenfalls v. G. Hammer, AWA Bd. 1, Köln 1991). Zudem konnte B. bereits die Vorarbeiten für den zweiten Teil der Neuedition einsehen (vgl. 244, Anm. 30).

Den eigentlichen Studien stellt B. eine ausführliche Einleitung (1-38) voran. Deren Schwerpunkt bildet eine informative Forschungsübersicht zu dem Thema "Luther und Geschichte" (3-28).

Der Hauptteil dieses Buches (39-255) untergliedert sich in acht Kapitel. Als Hinführung geht B. in Kap. 1 (39-74) allgemein auf Luthers Verständnis der Psalmen ein. Im Hinblick auf sein Thema ist beachtenswert, daß B. dabei nicht nur die Betonung des buchstäblichen Schriftsinnes (d. h. der historischen Auslegungsweise) bei Luther im Gegenüber zu den anderen Auslegungsmethoden herausarbeitet, sondern bereits an dieser Stelle bei der Betrachtung der Aussagen zur Aktualität der Psalmen hervorhebt, daß Luther deren gegenwärtige Bedeutung "aus der Unmittelbarkeit des Wortes Gottes zur Geschichte" begründet (57).

Im zweiten Kap. (75-90) untersucht B. dann den Stellenwert von "historia/historicus" in Luthers Psalmenexegese. Dabei kommt B. in ähnlicher Weise wie vor ihm zuletzt R. Schwarz und G. Hammer zu dem Ergebnis, daß von Luther nicht einfach die historische Auslegungsweise von den übrigen drei getrennt wurde, sondern daß er diese neu faßte. Entscheidend für Luther war, die alttestamentlichen Historien als Glaubenszeugnisse der Gemeinden, genauer der Glaubenden aller Zeiten anzusehen. Im folgenden Kap. 3 (91-113) verdeutlicht B. diese neue "Konzeption einer ,Geschichte des Glaubens’" beispielhaft an der Exegese von Ps 7.

Da Luthers Sicht der Geschichte, wie sie sich in dessen erster Psalmenvorlesung (1513-1515) zeigt, noch sehr von der Figuraldeutung bestimmt war, fragt B. in einem vierten Kap. (115-127) nach der Bedeutung dieser Auslegungsweise in den "Operationes in psalmos". B. kann belegen, daß aufgrund Luthers nun neuer Auffassung von Geschichte die "figura" für ihn keine Form der Geschichtsbetrachtung mehr darstellt.

In einem fünften Kap.(129-170) analysiert B. detailliert Luthers Erklärung von Ps 9a (gemäß der Zählung in der Vulgata). Dabei wird auch hier überzeugend dessen "Auffassung von der geschichtlichen Kontinuität" (146) nachgewiesen, die sich aus der beständigen Aktualität des Wortes Gottes begründet.

Die Exegese von Ps 9b (Vulgata = Ps 10 in der hebräischen Bibel) stellt einen gewichtigen Abschnitt für Luthers Verständnis des Antichristen dar und widerspiegelt somit einen entscheidenen Aspekt seiner Sicht der Geschichte. Deshalb beleuchtet B. in einem gesonderten Kap. 6 (171-200) Äußerungen Luthers zum Antichristen bis zum Abfassen der "Operationes" zu Ps 9b (Vulgata) in ihrem historischen Zusammenhang. B. betont an dieser Stelle, daß Luther zwar jenen Topos für seine Kirchenkritik verwendete, jedoch diesen nicht mit dem Gedanken einer eschatologischen Naherwartung verband. Warum B. dies so wichtig ist, wird dem Leser erst zu Beginn des 7. Kap.s (201-238) verständlich gemacht. B. skizziert hier zu Anfang kurz die Kontroverse zwischen H. A. Oberman und seinem Lehrer B. Lohse zur Interpretation von Ps 9b (Vulgata). Darin hatte Obermann u. a. behauptet, Luther habe bereits in dieser Auslegung das Ende der Zeit des Antichristen in Rom erkannt und von daher Schlüsse für sein Selbstverständnis als Reformator gezogen. Dieser Auffassung widersprach Lohse vehement. B. zieht nun nach seiner eingehenden Betrachtung der Exegese von Ps 9b das Fazit, daß Luther dort eine "Kriteriologie des Antichristen" (226) gibt, also lediglich Kriterien benennt, woran sich der Antichrist erweist. Nachfolgend geht B. auf Luthers Brief an Georg Spalatin vom 20. Februar 1520 ein, der wenige Wochen nach der Auslegung von Ps 9b verfaßt wurde. Erstmals in diesem Schreiben ist nach B. die ",Antichristianisierung’ des Papstes" bei Luther nachzuweisen. Als Pointe seiner Studien zum Antichristen formuliert B. dann: "Erst die Identifizierung des Papstes als des Antichrists setzt Naherwartung frei" (233).

Die Untersuchungen abrundend wird in einem 8. Kap. (239-255) eine Analyse der Erklärung zu Ps 19 (Vulgata) gegeben. Dabei kann B. erneut Luthers Vorstellung von einer kontinuierlichen Geschichte des Glaubens aus dem Wort Gottes belegen.

In der abschließenden "Zusammenfassung" (257-270) trägt B. nicht nur seine wichtigsten Ergebnisse nochmals vor, sondern bietet u. a. einen, leider nur äußerst kurzen Vergleich der Geschichtsauffassung Luthers in seiner ersten und zweiten Psalmenvorlesung. Der Abschnitt "Rückblick und Ausblick" macht deutlich, daß auch nach B.s Studien noch viele Fragen zu dem großen Thema "Luther und Geschichte" - auch in Bezug auf die "Operationes in psalmos" - unbeantwortet sind.

Zweifellos liegt die Stärke von B.s Arbeit in dem steten Rückbezug auf den Text der Psalmenvorlesung. Diese Dissertation zeigt, daß aufgrund exakter philologischer und historischer Betrachtung Aspekte von Luthers Sicht der Geschichte sehr differenziert herausgearbeitet werden können.