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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1210–1212

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Zernecke, Anna Elisa

Titel/Untertitel:

Gott und Mensch in Klagegebeten aus Israel und Mesopotamien. Die Handerhebungsgebete Ištar 10 und Ištar 2 und die Klagepsalmen Ps 38 und Ps 22 im Vergleich.

Verlag:

Münster: Ugarit-Verlag 2011. XV, 407 S. = Alter Orient und Altes Testament, 387. Lw. EUR 75,00. ISBN 978-3-86835-058-6.

Rezensent:

Bernd Janowski

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Maul, Stefan Mario, u. Rita Strauß: Ritualbeschreibungen und Gebete I.M. Beiträgen v. D. Schwemer. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 2011. XI, 240 S. u. 71 Tfn. = Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft, 133/IX: Keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts, 4. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-447-06107-0.
Oshima, Takayoshi: Babylonian Prayers to Marduk. Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XVIII, 483 S. u. 39 Tfn. m. Abb. = Orientalische Religionen in der Antike, 7. LW. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-150831-8.


Wer sich für die Gebets- und Ritualliteratur des alten Mesopotamien interessiert, wird in der Regel – um nur das Bekannteste zu nennen – auf die Ausgaben und Anthologien von A. Falkenstein/W. von Soden, Summerische und akkadische Hymnen und Gebete (SAHG), 1953, J.-M. Seux, Hymnes et prières aux dieux de Babylonie et d’Assyrie (HPDBA), 1976, O. Kaiser (Hrsg.), Orakel, Rituale, Bau- und Votivinschriften, Lieder und Gebete (TUAT 2), 1991, W. W. Hallo, The Context of Scripture I–III, 1997–2002 (s. ThLZ 126 [2001], 155–157), B. R. Foster, Before the Muses, 2005, A. Lenzi, ed., Reading Ak­kadian Prayers and Hymns. An Introduction, 2011 (mit einem aufschlussreichen Index »Scriptural Texts«: 515-520!) und neuerdings B. Janowski/D. Schwemer (Hrsg.), Hymnen, Klagelieder und Gebete (TUAT.NF 7), 2013, zurückgreifen. Es ist ein erfreuliches Zeichen, dass die Assyriologie inzwischen dazu übergangen ist, Monographien mit Bearbeitungen (Editionen) und Interpretationen zu bestimmten Gebets- und Ritualtexten vorzulegen und damit nicht zuletzt auch den historischen und philologischen Nachbarwissenschaften sowie der Kultur- und Religionswissenschaft wichtiges Quellenmaterial zur Verfügung zu stellen.
Der dem Andenken an den großen Göttinger Assyriologen R. Borger gewidmete Band von Stefan Mario Maul und Rita Strauß bietet nach einer knappen, aber gehaltvollen Einleitung (1–8) sowie einem Katalog der 75 hier publizierten Texte (9–23) eine sorgfältige Bearbeitung dieser Texte, die folgenden Gattungen angehören: Löserituale/sogenannte Namburbis (Texte 1–21), Amulette zum Schutz des Hauses und seiner Bewohner (Texte 22–23), Rituale ge­gen Schadenzauber (Texte 24–33), Rituale zur Abwehr von Un­heil, Krankheit und Bösem (Texte 34–51), heilkundliche Rezepte (Text 52), Rituale zur Herbeiführung eines Orakelentscheids (Text 53), »Handerhebungsgebete« und Gebete aus Ritualbeschreibungen (Texte 54–73, Einzelbemerkungen und Korrekturen bei M. J. Geller, ZA 102 [2012], 339–344). Alle Texte stammen aus mittel- und frühneuassyrischer Zeit und belegen als Gebrauchstexte des »Be­schwö­rers« einmal mehr die zentrale Rolle der Stadt Assur für die mesopotamische Literatur und Wissenschaft. Maul hat in seinen bisherigen Veröffentlichungen (s. dazu das Literaturverzeichnis, 164 f.) zu Recht auf die Bedeutung dieser Textgattungen für das geistige Leben Mesopotamiens hingewiesen und die besondere, vorneuzeitliche Logik der Ritualanweisungen/-beschreibungen hervorgehoben, die sich immer wieder die Arroganz aufgeklärter Ritenkritik gefallen lassen musste. Wer sich aber die Mühe macht, die Texte ausreden zu lassen (dazu helfen auch die ausführlichen Indizes mit Übersetzung der akkadischen Wörter, 135–161), wird an die hellen wie dunklen Seiten der mesopotamischen Kultur herangeführt und erhält einen authentischen Eindruck von ihrem unentwegten Bemühen um die Bewältigung von Krankheit, Unheil und Gotteszorn (s. dazu auch C. Amos u. a., Hrsg., Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, 2005, 22 f.38 ff.51 ff.85 ff.96 ff. u. ö.).
Der Band von Takayoshi Oshima, der mit dieser Arbeit im Jahr 2005 an der Hebräischen Universität in Jerusalem promoviert wurde, stellt seit J. Hehn, Hymnen und Gebete an Marduk, 1905, die erste umfassende Studie der an Marduk gerichteten Gebete dar (zur Forschungsgeschichte s. 2 f.). Marduk war der Stadtgott von Babylon und seit der Zeit Hammurabis (18. Jh. v. Chr.) der wichtigste Gott Babyloniens (s. dazu B. Groneberg, Die Götter des Zweistromlandes, 2004, 86 ff.; T. Oshima, The Babylonian God Marduk, in: G. Leick, ed., The Babylonian World, 2007, 348–360). Der Vf. bietet eine Neubearbeitung aller bisher bekannten Mardukgebete (insgesamt 31) und diskutiert ihre theologischen, anthropologischen und ritualgeschichtlichen Aspekte. Der Band enthält vier Kapitel (5–415), eine Bibliographie (417–435) und ausführliche Indizes (457–483: Wörter, zitierte Texte, Incipits u. a.). In Kapitel 1: General Discussion of Akkadian Prayers (5–38) gibt der Vf. zunächst einen allgemeinen Überblick über die akkadischen Gebete, ihre mehr als zwölf verschiedenen sumerischen/akkadischen Gattungsbezeichnungen, ih­re Struktur (Hymnic Introduction, Lament, Pleas, Thanksgiving) und ihre Funktion (Personal Supplications to Gods, Prayers as Of­-ferings, Prayers as Holy Writings). Ein kurzes Kapitel 2: Marduk the God of Deliverance and Punishment über Akkadische Hymnen und ihre Terminologie (33–37) sowie ein Summary (37) beschließen diesen Teil. Hier diskutiert der Vf. auch die Beziehungen Marduks zu anderen mesopotamischen Gottheiten (wie Içtar u. a.) und vergleicht die Funktion von Marduk in den Mardukgebeten mit derjenigen in anderen Texten (u. a. Ludlul B™ l N™ meqi, Çuila-Gebete). Nach dem Katalog der akkadischen Mardukgebete in Kapitel 3: Catalogue of Akkadian Prayers (79–136) wendet sich der Vf. in Kapitel 4: Selected Akkadian Prayers to Marduk (137–415) schließlich der Textbearbeitung und -interpretation ausgewählter Mardukgebete zu, die in Partiturumschrift, Übersetzung und Kommentar dargeboten werden. Die ist das Herzstück des vorliegenden Buchs. Es wird durch ausführliche Indizes erschlossen, von denen das Verzeichnis der Epitheta Marduks (in alphabetischer Ordnung: 437 ff., und geordnet nach göttlichen Aspekten/Eigenschaften: 448 ff.) be­sonders hervorzuheben ist.
Die Arbeit des Vf.s ist von vorbildlicher Gründlichkeit und Umsicht. Das gilt in gewisser Weise auch für die Studie von Anna Elisa Zernecke, die eine andere Gebetsgattung, nämlich die sog. Handerhebungsgebete (Çuila), in den Blick nimmt und zwei von ihnen (Içtar 2 und Içtar 10, zu beiden Texten s. bereits A. Zgoll, Die Kunst des Betens, AOAT 308, 2003, 41 ff.107 ff., zu Içtar 2 s. auch K. Hecker, in: TUAT.NF 7, 2013, 85–90) mit zwei alttestamentlichen Individualklagen (Ps 22 und 38) vergleicht (zur Begründung dieser Textauswahl s. 25 ff.). Die Vfn., die mit der vorliegenden Arbeit an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Mainz promoviert wurde und auch an dem oben genannten Band von Lenzi, Reading, 61–68 (»The Use of Akkadian Prayers in the Study of the Hebrew Bible«); 169–178 (zu Içtar 24); 257–290 (Içtar 2) mitgearbeitet hat, beginnt ihre Darstellung in der Einleitung (3–31) mit einem forschungsgeschichtlichen Überblick zur Rezeption mesopotamischer Gebetstexte in der alttestamentlichen Wissenschaft (3ff.) und nimmt anschließend zur Methodik und Problematik des Vergleichs alttestamentlicher und mesopotamischer Gebetstexte Stellung (17 ff.). Dabei vertritt sie, m. E. völlig zu Recht, die Meinung, dass ein derartiger Vergleich »nur möglich [ist], wenn es grundsätzliche Gemeinsamkeiten zwischen den zu vergleichenden Elementen gibt; Unterschiede können nur auf einem Hintergrund von Gemeinsamkeiten als Unterschiede beschrieben werden« (17).
Diese methodische Prämisse ist in der Vergangenheit oft genug missachtet worden und setzt, wenn man sie befolgen will, eine doppelte Kompetenz voraus. Eine solche Kompetenz besitzt die Vfn., auch wenn man ihr hier und da nicht folgen wird/kann (wie z. B. auf S. 246 in Bezug auf die Überschrift von Ps 22,1; S. 258 ff. in Bezug auf Ps 22,22, dessen Text etwas freihändig geändert wird, u. a.). Die anschließenden fünf Kapitel sind so angelegt, dass in Kapitel 1 (33–76) und in Kapitel 2 (77–192) zunächst die beiden Handerhebungs­gebete Içtar 10 (kürzer) und Içtar 2 (länger, das älteste bekannte Handerhebungsgebet!) nach folgendem Muster analysiert werden: A. Text (Textzeugen, Text und Übersetzung, Varianten, Syntax, In­halt u. a.) und B. Thema: Die gestörte Gottesbeziehung des Beters. In vergleichbarer Weise werden in Kapitel 3 (194–240) und Kapitel 4 (242–296) die alttestamentlichen Vergleichstexte Ps 38 (kürzer, aber unter Einschluss von 4QPsa mit Fortsetzung von Ps 38 durch Ps 71, s. dazu 220 ff.) und Ps 22 (länger) untersucht, wobei die Eigenheiten der biblischen Texte gebührend zur Geltung kommen. Gespannt ist der Leser schließlich auf den Vergleich der beiden Textgattungen, dem Kapitel 5 (297–366) gewidmet ist und der formale (Gattung, Aufbau, Stimmungsumschwung, Anrufung und Lob am Gebetsanfang, Sitz im Leben) und materiale bzw. thematische Aspekte (Gottheiten: Içtar und persönliche Schutzgottheiten auf der einen und JHWH auf der anderen Seite; der Beter und seine Beziehungen) umfasst. Dass der Rezensent im Blick auf das Thema »Stimmungsumschwung« (322 ff.) dezidiert anderer Meinung ist, wird die Vfn. nicht wundern. Wie die Vfn. aber ihre Meinung be­gründet, wundert dagegen den Rezensenten (so würde ich statt von einer »psychologischen«, so die Vfn., 323.328, von einer »textpragmatischen Deutung« sprechen, s. dazu B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, 4. Aufl. 2013, 446 f.). Wie dem auch sei: Die Ergebnisse dieser Studie, die von der Vfn. am Ende resümiert werden (364 ff.), können sich sehen lassen und bilden eine verlässliche Grundlage für die weitere komparatistische Arbeit dieser Art.