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Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1202–1204

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Van den Kerchove, Anna

Titel/Untertitel:

La voie d’Hermès. Pratiques rituelles et traités hermétiques.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. XXV, 440 S. = Nag Hammadi and Manichaean Studies, 77. Geb. EUR 161,00. ISBN 978-90-04-22345-5.

Rezensent:

Esteban Law

Das Buch fragt nach der Praxis der Frömmigkeit im Corpus Hermeticum (= CH), einer der Sagengestalt des Hermes Trismegistos zugeschriebenen Sammlung philosophisch-theologischer Texte aus der römischen Kaiserzeit. Diese Frage ist nicht neu, wohl aber die Gründlichkeit und Umsicht, mit der sie hier behandelt wird. Anna Van den Kerchove erschließt das Thema unter der Voraussetzung einer quer durch das Korpus nachweisbaren Phänomenologie religiöser Erfahrungen, welche den Wissenserwerb und die Wissensvermittlung als Gegenstand von »pratiques rituelles« begreift (zu diesem Begriff und seiner Funktion s. 13 f.). Nach diesem Grundsatz werden aus Form und Inhalt hermetischer Origina­l­texte Rückschlüsse auf die Struktur und Ausgestaltung eines als »Weg des Hermes« ( voie d’Hermès) bezeichneten Heilswegs gezogen durch die Aufdeckung einer die Strategie des Schreibens mit bedenkenden (s.16 f.), den Autoren und Gleichgesinnten unterstellten »dynamique« und »voie de vie« (15). Hierzu macht die Studie von der berechtigten Möglichkeit Gebrauch, von den »caractéristiques communes« der erhaltenen Traktate, Exzerpte und Fragmente auszugehen (15). In Anbetracht der Vielfalt der im CH vereinigten Traditionen sei besagter Heilsweg zwar nicht als eine allseitig präsente, zum mindesten aber als eine streckenweise (latent) vorhandene methodische Praxis zu betrachten, was der (forschungsgeschichtlich älteren) Frage nach der Existenz hermetischer Zirkel neue Aktualität verleihe (s. 375).
In Teil 1 geht die Vfn. auf den Aspekt der Unterweisung ein. Die Darstellung fußt grundlegend auf CH I. Sie betrifft allem voran die Inspirationsfigur des CH (Hermes Trismegistos) in seiner Funktion als Empfänger der von ›Poimandres‹ oder dem Geist ausgehenden Offenbarungen. Diese Funktion – dazu gehört das auf S. 44 f. erörterte Problem, ob CH I ein Einweihungsritual darstelle – begründe, zumindest in dem mit CH I zusammenhängenden Zweig der Überlieferung, Hermes’ Entwicklung vom Schüler zum Lehrmeister und damit zum Erbe einer von ihm selbst bzw. in seinem Namen missionarisch propagierten Tradition (s. 3 ff.). In diese hätten sich nach Ansicht der Vfn. die Autoren und ihre – auf demselben »Weg des Hermes« wandelnden – Adressaten gestellt (dem CH nahe stehende Christen, wie etwa Laktanz, werden nicht dazugerechnet). Da­durch sei Hermes zum Führer und zur Autorität einer nur in­nerhermetisch verorteten Bewegung aufgestiegen, deren Teilhaber im göttlichen Werdegang und Lehramt ihres mythischen Meisters das Vorbild eines religiösen Ideals erblickt und dementsprechend das im CH vorgeführte didaktische Modell mit Unterweisung, Visionen und innerer Wandlung so nachgeahmt und weitergegeben hätten, dass die Uroffenbarung des Poimandres (»Révélation primordiale«) im Rahmen dieser hermetischen Tradition oder – wie die Vfn. immer wieder betont – »au moins selon une branche de la tradition hermétique« Anlass zu nachträglichen Offenbarungen (»révélations ultérieures«) gegeben hätte (s. 45 ff.65.79.179.373). Stellen also Teile des CH in diesem Sinn einen Lehrgang dar? Stehen die Ordnung der Traktate, ihre Gattung und die in ihnen festgestellte Dynamik im Dienste der Lehrpraxis? Auf diese Fragen wird eingegangen. Auf alle Fälle habe in besagten Kreisen der hermetische Text im Sinne von Lesemysterien (»mystères à lire«) im Mittelpunkt von Exerzitien spiritueller Art gestanden. Auch der Schutz des Wissens durch Geheimhaltung, Schweigen, verborgenen Schriftsinn und apotropäische Handlungen habe hier als hermetische Pflicht oberste Priorität genossen (s. 152.179.374).
In den verbleibenden zwei Teilen werden die »pratiques rituelles« behandelt. Damit gemeint sind vor allem zum einen die Praxis im Zusammenhang mit Götterbildern, Opfer und Gebet, Kuss und Speise (Teil 2), zum anderen der Erwerb von Geist und die Erkenntnis Gottes durch ›Wiedergeburt‹ und Schau (Teil 3). Die Vfn. erblickt den wesentlichen Unterschied beider Kategorien im Allgemeinen darin, dass erstere »regulär repetitive«, letztere »punktuelle« Phänomene zum Gegenstand hätten. Diese stünden in der Rangordnung höher als jene. Umgekehrt stellten jene für diese bei der praktischen Umsetzung des voie d’Hermès die Basis dar (s. 17.374 f.).
Durch die Verfertigung, Belebung und Verehrung von Götterstatuen sowie durch Opfer, Gebete, Hymnen und Lobpreisungen tritt der Hermetiker mit dem Göttlichen in Verbindung. Die Präsenz dieser Praktiken im CH zeige, dass der »Weg des Hermes« Elemente aus der Kultfrömmigkeit mit berücksichtigt habe. Darin ähnelte die causa hermetica dem Unternehmen des Neuplatonikers Iamblich, dem es im Rahmen seiner Theurgie um die Bewahrung und Rechtfertigung des griechischen Kults ging und der dessen Ausgleich mit dem orientalischen vorantrieb. Allerdings hätten sich die Hermetiker bei der Integration besagter Kultelemente in ihre religiöse Praxis ungleich stärker als Iamblich den ägyptischen Standpunkt zu eigen gemacht – und dies sogar so weit, dass sich vor diesem Hintergrund von neuem die Frage stelle, ob die Hermetiker eventuell hellenisierte Ägypter gewesen seien (s. 272 ff.376). Übrigens, wie diese Kulturproblematik bei der Verschriftlichung des postulierten hermetischen Programms zum Ausdruck kommt, macht die Vfn. u. a. darin aus, dass die im Originaltext behauptete oder suggerierte ägyptische Redaktion von CH XVI und NH VI,6 nur fiktiv sei. Sie sei ein rituell-performativer Akt der Heiligung von Schriftlichkeit und entspräche einer Strategie der Legitimation hermetischer Unterweisung durch die implizite Assoziation mit der Schreiberwerkstatt eines ägyptischen Tempels bzw. mit dem so genannten »Haus des Lebens« (s. 152.376). Dennoch hätten diese Angaben ihren spezifisch sprachlichen Sinn darin, dass sie auf die »Sprache des Hermes« zielten. Denn »la langue d’Hermès, qui se distingue du grec courant par un champ sémantique différent, est apte, à l’instar de l’egyptien, à rendre compte d’un savoir d’origine divine« (152).
Wenn der »Weg des Hermes« durch das »Eingehen in Gott« (CH I.26) in der Erlangung des Heils sein eigentliches Ziel erblickt (so 373), dann kommt dabei den »punktuellen« Erscheinungen, nämlich dem Erwerb von Geist, dem Ereignis der Wiedergeburt und den Visionserlebnissen die entscheidende Bedeutung zu (s. 374). Diese stünden daher »à la fin de l’instruction« (ebd.). Der Geist ist das Instrument zur Erkenntnis Gottes. Die theoretische Basis liefert hier CH I und CH IV. An diese schließt sich dann die Darstellung der Wiedergeburt und der Visionserfahrungen (nach CH XIII und NH VI,6). Denn beide bildeten die »connaisance qui mène à Dieu« (323).
Mit La voie d’Hermès ist eine originelle Studie vorgelegt worden. Sie stellt sowohl durch die Gesamtbetrachtung der einschlägigen hermetischen Quellentexte als auch durch die weitere Heranziehung griechisch-römischer und – was selten ist – koptischer und ägyptischer Vergleichsüberlieferungen die erste umfassend durchdachte Antwort auf die Frage nach der didaktischen Praxis der im CH zutage tretenden Religiösität dar. Die Möglichkeit und Notwendigkeit einer systematischen Erforschung des CH, welche die intertextlichen Gemeinsamkeiten der darin vereinigten Traktate, Exzerpte und Fragmente in den Dienst der Interpretation stellt, ist durch La voie d’Hermès eindrucksvoll unter Beweis gestellt worden.