Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2013

Spalte:

1197–1198

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bustorf, Dirk

Titel/Untertitel:

Lebendige Überlieferung. Geschichte und Erinnerung der muslimischen Silt’e Äthiopiens. With an English Summary.

Verlag:

Wiesbaden: Otto Harrassowitz 2011. XVII, 476 S. m. Abb. = Aethiopistische Forschungen, 74. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-447-06543-6.

Rezensent:

Karl Prenner

In dieser Arbeit präsentiert Dirk Bustorf das Ergebnis seines Projektes, das der Erforschung der Geschichte der muslimischen Silt’e, deren Siedlungsgebiet im südlichen Zentraläthiopien liegt, gewidmet ist. In der Einführung gibt B. über den Gegenstand seiner Un­tersuchung, die Zielsetzung, den Aufbau der Arbeit und über den Forschungsstand Rechenschaft. Methodisch handelt es sich um eine »mobile Feldforschung« mit dem »halbstandardisierten Interview oder Leitfadeninterview«. Nicht nur Legenden und Anekdoten historischen Gehalts, sondern auch genealogische Narrationen und Preislieder fungieren als Übermittler der Gedächtniskultur der Silt’e. Die Feldforschung wurde in mehreren Perioden von 2003 bis 2006 durchgeführt, wobei für B. die teilnehmende Beobachtung am religiösen und sozialen Leben der Silt’e möglich war.
Anschließend diskutiert er eingehend das Verhältnis von Mythos und Geschichte. Ergebnis seiner Analyse ist, dass mündliche Narrative nicht unbedingt in Widerspruch zu einer historiographischen Auswertung stehen müssen, denn in den Erzählungen über die Vergangenheit verberge sich die Erinnerung an historische Erfahrungen des Kollektivs. Nach einer landeskundlichen und ethnographischen Einführung beleuchtet er die vormoderne Gesellschaftsordnung bei den Silt’e mit der Scharia ( seera) als Grundlage. Die Gedächtniskultur betrifft vor allem die Heiligenverehrung als Teil der islamischen Volksfrömmigkeit, lokal bekannte schaychs, um die sich Legenden und Wundergeschichten ranken: schaych Abd al-Qadir al-Gilani, schaych Husayn von Bale, haǧǧi Aliye und andere ulama (Gelehrte) und auliya (Heilige). Die Kultur der schaych-Verehrung im Rahmen alljährlicher maulid-Feiern sei noch lebendig, vor allem bei den jeweiligen Grabstätten (qubba). Diese Art der muslimischen Volksfrömmigkeit ist jedoch durch das Vordringen des wahhabitischen Islam bedroht.
Anschließend geht B. den »Herkunfts- und Wanderungslegenden« über die »Zeit der Anfänge« nach. Die Vorfahren und Einwanderer der Silt’e sind laut mündlicher Überlieferung arabischer Herkunft. Ihr frühester Ahn und damit beliebteste Gestalt der gegenwärtigen mündlichen Überlieferung ist haǧǧi Aliye, der »Vater der Silt’e«. Er gilt im Geschichtsbewusstsein der Silt’e als Anführer der Einwanderer (16. Jh.) und als Begründer der Rechtsordnung im Geist der Scharia. Als Ahninnen werden die »fünf Königinnen« oder »fünf Schwestern«, Zeitgenossen haǧǧi Aliyes, verehrt.
Im Zuge der Eroberungen des Südens unter Menelik II. (Ende des 19. Jh.s) wurden islamisch geprägte Regionen Teil des modernen christlich-äthiopischen Staates. Über die Handels- und Kommunikationswege gelangte etwa seit Ende des 18. Jh.s der militante Islam wahhabitischer Prägung mit seiner dschihad-Ideologie ins südliche Zentraläthiopien und richtete sich gegen diese Expansionspolitik des christlichen Nordens. Zwar lehnten die traditionellen mystischen Sufi-Bruderschaften, die den äthiopischen Islam wesentlich prägen, die Wahhabiten ab, doch wurden die Bruderschaften zunehmend von Radikalität und Kampfgeist der Fundamentalisten inspiriert. Da das Gebiet der Silt’e von dieser Islamisierungskampagne kaum betroffen war, ist die historische Erinnerung bei ihnen auch nicht besonders ausgeprägt. Die Erneuerung des Islam bei den Silt’e-Gruppen selbst erfolgte über die Sufi-Bruderschaften. Eine Folgeerscheinung dieser Erneuerung war, dass sie in überregionale islamische Netzwerke eingebunden wurden, vor allem in das des Qadiriyya-Ordens, wodurch sich die Kontakte mit der islamischen Welt verstärkten.
Als das Silt’e-Land Teil Äthiopiens wurde, begann eine neue Epoche, denn die einheimische Bevölkerung verlor ihre Unabhängigkeit und musste sich dem äthiopischen Steuer- und Verwaltungssystem unterordnen; außerdem wurden christliche Nordäthiopier (Am­-hara) in ihrem Gebiet angesiedelt. Es kam in der Folge zur Errichtung einer politischen und gesellschaftlichen Pa­rallelstruktur, wo­bei die Muslime als Menschen zweiter Klasse angesehen wurden. Allerdings ergaben sich mit der neuen Herrschaft auch neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Die Silt’e-Geschichtserzählung teilt die Zeit zwischen 1936 und 1941 in zwei historische Phasen: die »Zeit des Chaos« und die »Italienerzeit«. Erstere Zeit beginnt im südlichen Zentral­äthiopien mit der Niederlage der äthiopischen Armee 1936 gegenüber den italienischen Invasoren. Unter der neuen italie­nischen Fremdherrschaft wurden Personen, deren Loyalität zum Staat man bezweifelte, verfolgt. Darunter waren nicht nur ulama, sondern vor allem auch »Wahrsager«. Noch heute sei die trauma­tische Erfahrung dieser Zeit in den Erzählungen spürbar. Aufgrund der Neutralität des Staates der Religion gegenüber war aber die grundsätzliche freie Religionsausübung gegeben. Die italienische Besatzungszeit gilt daher für viele Silt’e heute »als Beginn einer Emanzipation der Muslime« (312).
Nach der äthiopischen Revolution 1974 kam es zur »ersten quasi-offiziellenVerwendung der Silt’e-Sprache« (317). Die Verfassung der Federal Democratic Republic of Ethiopia von 1995 schrieb sodann die Grundsätze fest, die schon zuvor durch die Inkraftsetzung der Transitional Period Charter, nämlich die institutionelle Anerkennung der ethnischen, sprachlichen und kulturellen Vielfalt, in Kraft getreten war. Der Mannigfaltigkeit der ethno-linguistischen Differenziertheit steht allerdings von allem Anfang an eine autoritativ und zentralistisch agierende Bundesregierung ge­genüber. Im Gefolge der Herausbildung einer eigenständigen Identität der Silt’e-Gruppe gegenüber den Gurage, zu denen man sie traditioneller Weise zählte, wurde die Silt’e zone gegründet. Die Anerkennung der Silt’e als eine eigene kulturelle und sprachlich einheitliche Ethnie hatte wiederum Rückwirkungen auf ihr Geschichtsbewusstsein von der historischen Eigenheit und Einheit. B. macht aber deutlich, dass es angesichts des Überlieferungsmaterials nicht möglich ist, eindeutig zwischen »mythischer Verklärung und historischer Erinnerung« zu unterscheiden (336).
Die Forschungsarbeit wird durch Angabe von mündlichen Quellen, einer Bibliographie sowie einem Verzeichnis des verwendeten Kartenmaterials, einem Glossar äthiopischer und arabischer Begriffe, genealogischer Schemata, Karten und einem Index abgeschlossen. B. ist es bestens gelungen, das mündlich überlieferte, mythisch und ideologisch ausgerichtete Erzählgut der Silt’e mit den historischen Erinnerungen differenziert darzustellen und auszuwerten – eine Vorgangsweise, die sehr viel an methodischer Reflexion, aber auch an Einfühlungsvermögen in die Narrationen der Silt’e erfordert hat. Insgesamt liegt hier also das Ergebnis einer anspruchsvollen Feldforschung vor, die vor allem auch in methodischer Hinsicht für die ethno-historische Forschung wegweisend sein kann.