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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1173–1175

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Pschichholz, Christin

Titel/Untertitel:

Zwischen Diaspora, Diakonie und deutscher Orientpolitik. Deutsche evangelische Gemeinden in Istanbul und Kleinasien in osmanischer Zeit.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2011. 288 S. m. 1 Abb. = Konfession und Gesellschaft, 44. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-17-022025-6.

Rezensent:

Martin Lückhoff

Mit ihrer Kieler Dissertation wendet sich Christin Pschichholz der bisher wenig beachteten Geschichte der deutschsprachigen Ge­meinden in Istanbul und Izmir in osmanischer Zeit zu. Lag bislang der Schwerpunkt auf der Erforschung der Geschichte deutschsprachige Gemeinden im Osmanischen Reich vor allem auf der Kirchengeschichte des Heiligen Landes, so erweitert P. mit ihrer im Fach Mittlere und Neuere Ge­schichte angenommenen Arbeit das Spektrum. Dabei werden Parallelen zur Gemeindeentwicklung Je­rusalems deutlich, die sich in ähnlicher Wechselwirkung mit der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland vollzog. Un­abhängig davon gelingt es P., Istanbuler Besonderheiten herauszuarbeiten, die vor allem während der Gemeindegründung und in der Zeit der Armenierpogrome erkennbar werden. Ein abschließendes Fazit bündelt den Ertrag in hilfreicher Weise, ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Personenregister schließen die Arbeit ab.
Bereits mit dem Titel formuliert P. ihre These, die sie ebenso stringent wie überzeugend entfaltet. Es ist eine Verbindung von gemeindlicher Diaspora, diakonischem Handeln und außenpoli­-tischen Interessen, die die Entwicklung der deutschsprachigen Ge­meinde bis zum Ende des Osmanischen Reiches kennzeichnet. Dabei greifen evangelische Auswandererfürsorge, eine mit dem in Deutschland aufkommenden Vereinswesen verbundene Mission sowie seit den 1870er Jahren stark nationalistisch geprägte kolo­-niale Phantasien ineinander.
In einem ersten Teil beschreibt P. die Betreuung deutschsprachiger Emigranten in der osmanischen Stadtgesellschaft als he­terogenes Geschehen. Damit widerlegt sie die gängige These einer einheitlich wirkenden »deutschen Kolonie« in Istanbul. Nationale, religiöse und auch ökonomische Voraussetzungen wirken sich biographisch unterschiedlich aus. Entsprechend verschieden sind die jeweiligen Annäherungen an ein multiethnisches Umfeld. P. charakterisiert die Gemeinde als Gruppierung ohne festen Zu­sam­menhalt, die dadurch auch einem breiten Spektrum gesellschaftlicher Gruppen eine Teilnahme am kirchlichen Leben er­möglicht. Immer wieder werden die Auswirkungen der innen- und außenpolitischen Entwicklungen in Deutschland und deren Folgen für die Gemeinden im Osmanischen Reich deutlich. So zeichnen sich in den Gemeinden die gesellschaftlichen, politischen und sozialen Konflikte der Zeit ab, die auch die Entwicklung der Gemeinden Deutschlands mitbestimmen. Sie bilden sich innerhalb der europäischstämmigen Bevölkerung ab, wobei die Bedingungen des Os­manischen Reiches deren Situation noch komplexer erscheinen lassen. Konfessionelle Konkurrenz, Abgrenzungen in den Vereinen, antiklerikale Einflüsse und zunehmende Rivalität europäischer Staaten führen zu einer Gemengelage, die die Entwicklung der Gemeinden maßgeblich beeinflusste.
Im zweiten Teil konzentriert sich P. auf die Arbeit der Missionsgesellschaften. Da in der Gründungsphase religiöse, soziale und rechtliche Gegebenheiten keine direkte Mission unter der einheimischen Bevölkerung zuließen, verfolgten die Gesellschaften zunächst das Konzept einer sozialen Mission. Dies änderte sich mit der innenpolitischen Krise des Osmanischen Reiches und dem wachsenden Einfluss der europäischen Mächte. Ausgehend von Gedanken der Inneren Mission ergaben sich neue Motive und Zielsetzungen für die Auslandsdiasporafürsorge. P. verdeutlicht die starke Verknüpfung einer zunehmend institutionalisierten Diasporafürsorge mit kirchlichen Initiativen als Antwort auf die drängenden sozialen Fragen. Parallel zu den kirchlichen Vereinen in Deutschland entstehen Vereine in Istanbul und Izmir. Ähnlich der Auslandsarbeit in anderen Regionen des Osmanischen Reiches bildeten die Vereine und die von ihnen gegründeten Schulen die Grundpfeiler, die die kirchliche Auslandsarbeit trugen. Damit wa­ren Organisationsformen geschaffen, die rechtliche, finanzielle und konzeptionelle Verlässlichkeit ermöglichten, Gemeindearbeit zu gestalten und soziale Probleme zu lösen.
P. zeigt im dritten Teil ihrer Arbeit die Erweiterung von sozialer und volksmissionarischer Tätigkeit auf, die durch eine Integration kolonialer Ideen in die kirchlich soziale Arbeit erfolgte. Um die jeweilige Infrastruktur auszubauen, griffen die Verantwortlichen vor allem auf die national ausgerichteten Vereine vor Ort zurück. Überzeugend bestätigt sie die These der Nationalisierung evangelischer Auslandsarbeit, bei der zunehmend die nationale anstelle der konfessionellen Identität hervortritt. Symptomatisch hierfür ist die Auseinandersetzung um den aus der Schweiz stammenden Pastor Karl Götz, dessen Entlassung aus der Pfarrstelle 1892 nach kritischen Anmerkungen zum Gottesgnadentum in einer Predigt folgte. Überzeugend und beklemmend beschreibt P. die stillschweigende Duldung bis hin zur Legitimierung der Deportation weiter Teile der armenischen Bevölkerung. Allenfalls die konfessionelle Zugehörigkeit zu einer armenisch-evangelischen Gemeinde drängte Verantwortliche zum Handeln. Ansonsten erscheint der Völkermord in der Sicht gemeindlich Verantwortlicher als eine in manchem nachvollziehbare innenpolitische Entwicklung des Osmanischen Reiches.
In ihrer Arbeit konzentriert sich P. auf die Interaktion von Gemeinden, Missionsvereinen und Ministerialbürokratie. Gesellschaftliche Auseinandersetzungen mit dem osmanischen Umfeld treten dahinter zurück. So entsteht der Eindruck von Parallelwelten, die durch ein Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Ethnien, Religionen, nationalen Zugehörigkeiten geprägt sind. Besteht in den 1850er und 1860er Jahren noch ein Dreiklang aus kirchlicher Betreuung, Deutschtum und Mission, so entwickeln sich seit den 1870er Jahren die Interessen in unterschiedliche Richtungen. Ausschlaggebend hierfür sind vor allem die preußischen Ministerien, die Kaiserswerther Diakonie sowie die Vereine mit ihren jeweils voneinander verschiedenen Interessenlagen.
P. ist eine klar gegliederte, gut lesbare und archivalisch fun­-dierte Studie gelungen, die weit über den bisherigen Forschungsstand hinausführt. Sie zeichnet sich durch eine gute Rezeption der aktuellen Diskussion aus. Wer sich künftig mit der Geschichte deutschsprachiger Gemeinden im Mittleren und Nahen Osten im 19. Jh. beschäftigt, kommt an der vorliegenden Arbeit nicht vorbei.