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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1167–1169

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Rox, Barbara

Titel/Untertitel:

Schutz religiöser Gefühle im freiheitlichen Verfassungsstaat?

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XXVI, 407 S. = Jus Ecclesiasticum, 101. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-151912-3.

Rezensent:

Bodo Pieroth

Die Rechtsstreitigkeiten um das Verhältnis zwischen Staat und Religion in den vergangenen Jahrzehnten betrafen regelmäßig das zweiseitige Verhältnis zwischen dem Staat einerseits und Gläubigen oder Ungläubigen andererseits: Verletzt der Staat die Religionsfreiheit der muslimischen Lehrerin, wenn er ihr das Tragen eines Kopftuchs verbietet; des muslimischen Schlächters, wenn er ihm das Schächten verbietet; der muslimischen Schüler, wenn er sie zum Sexualkunde- oder Schwimmunterricht zwingt; der für gefährlich gehaltenen Sekte, wenn er sie durch den Verfassungsschutz überwachen lässt; der atheistischen Schüler, wenn im Klassenzimmer der öffentlichen Schule ein Kruzifix hängt? Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Auch die Strafvorschrift des § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsver­einigungen), die bis 1969 »Gotteslästerung«, die deutsche Übersetzung von »Blasphemie«, hieß, wurde lange Zeit nur noch als ein Problem im Staat-Bürger-Verhältnis angesehen: Verletzt der Staat die Meinungsfreiheit des Gotteslästerers? Angesichts der fundamentalen Bedeutung freier Kommunikation für den demokratischen Verfassungsstaat – das Bundesverfassungsgericht hat Art. 5 Abs. I GG mit den Worten der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 »un des droits les plus précieux« genannt – drängte sich die Bejahung der Frage auf. Deswegen wurde der Begriff der Gotteslästerung fallengelassen und wurde § 166 StGB in ein Delikt zur »Aufrechterhaltung des öffentlichen Friedens in der Ausprägung, den er durch den Toleranzgedanken er­fahren hat« (so die amtliche Gesetzesbegründung, Bundestagsdrucksache V/4094, 29), umfunktioniert. Deswegen wurde und wird auch § 166 StGB von der Rechtsprechung und der Lehre re­striktiv interpretiert und hat er kaum praktische Bedeutung.
Ist das seit dem Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen im Jahr 2006 anders geworden? In der Tat lässt sich nämlich an eine Strafbarkeit der Karikaturisten und Redakteure der Zeitung, in der die Karikaturen veröffentlicht worden sind, gemäß § 166 StGB denken, wenn man die gewalttätigen Folgen unter die Störung des »öffentlichen Friedens« subsumiert. Dieser Gedanke er­hält zusätzliche Nahrung durch neuere Entwicklungen der Grundrechtsdogmatik. Entgegen der überkommenen Lehre, wo­nach nur solche Grundrechte mehr sind als Abwehrrechte gegen den Staat, die ausdrücklich einen Leistungs-, Teilhabe- oder Schutzanspruch verbürgen, erkennt man heute allen Grundrechten eine sog. Schutzpflichtdimension zu. Danach hat der Einzelne ein Recht gegenüber dem Staat, dass dieser ihn vor ungerechtfertigten Eingriffen in seine Grundrechte durch andere Private schützt. Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die dänischen Mohammed-Karikaturen, durch die gläubige Muslime zutiefst erschüttert und in ihren religiösen Gefühlen verletzt werden, eine zusätzliche verfassungsrechtliche Problematik: Haben die Gläubigen nicht einen Anspruch gegen den Staat darauf, dass dieser sie vor der Verletzung ihrer religiösen Gefühle durch die »Gotteslästerer« schützt, und folgt daraus nicht, dass die Bestrafung nach § 166 StGB ein gerechtfertigter Eingriff in die Meinungsfreiheit ist?
Dieser Problematik widmet sich die vorliegende Abhandlung, eine von Christian Walter (jetzt Ludwig-Maximilian-Universität München) betreute Münsteraner Rechtswissenschaftliche Dissertation (an der ich nicht beteiligt war), in umfassender, tiefschürfender und überzeugender Art und Weise; zu Recht wurde sie mit dem Dissertationspreis der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der bevorzugt an zukünftige Habilitanden vergeben wird, ausgezeichnet. Die Einzelheiten der verfassungsrechtlichen Debatte um die Schutzpflichtdimension der Grundrechte sind weitläufig und komplex, gelegentlich auch hypertroph. Deshalb beschränke ich mich hier auf die Wiedergabe der wesentlichen Ergebnisse, die vom einfachen Bundes- und Landesrecht über das Verfassungsrecht bis zum Internationalen Recht (Europäische Menschenrechtskonvention und Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte) reichen. Die Vfn. scheut auch nicht vor rechtspolitischen Wertungen zurück, die – methodisch korrek t– jeweils als solche ausgewiesen werden.
Seit der Aufklärung sind Güter weltlicher Blasphemieverbote der Schutz des öffentlichen Friedens, der Schutz der Religion im Interesse des Staates und der Schutz der einzelnen Gläubigen. Ausdrücklich von »Verletzung des religiösen Gefühls« (vgl. 23) sprach im Jahr 1848 beispielsweise Friedrich Carl von Savigny, der Ahn-herr der canones, der noch heute praktizierten juristischen Ausle-gungsmethoden. Im freiheitlichen Verfassungsstaat können diese Schutzgüter nur mit erheblichen Modifikationen weiter gelten. Wer religiöse Wahrheiten infrage stellt oder gar beschimpft, kann sich auf die Meinungsfreiheit und als Karikaturist auf die Kunstfreiheit berufen. Die rechtliche Bewertung der »Gotteslästerung« darf nicht vorschnell eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit vornehmen, sondern muss zunächst die Reichweite der Schutzbereiche dieser Freiheiten klären.
Im Fall der Mohammed-Karikaturen besteht keine Schutzpflicht aus der Religionsfreiheit, weil verbale Attacken weder die Religionsausübung noch das forum internum, die Freiheit des Denkens in religiösen Angelegenheiten, beeinträchtigen; es gibt also grundsätzlich keinen sogenannten Konfrontationsschutz. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist so lange nicht betroffen, als religionsbeschimpfende und -verspottende Äußerungen wie bei den Mohammed-Karikaturen keinen personalen Bezug auf bestimmte Gläubige haben. Der öffentliche Friede verlangt die Möglichkeit aller, am öffentlichen Diskussionsprozess teilzunehmen, und verbietet somit die Ausgrenzung von Einzelnen oder Gruppen; auch insoweit kann es aber nicht lediglich auf deren Gefühle ankommen. Bezüglich der Verfassungsmäßigkeit des § 166 StGB erhebt die Vfn. zwar »Bedenken«, weil grundrechtliche Freiheit zugunsten von Rechtsbrechern zurückgedrängt wird; sie kann sich aber »aus Respekt vor dem Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers« (250) nicht zum Verdikt der Verfassungswidrigkeit durchringen.
Auf der Ebene der Europäischen Menschenrechtskonvention wird die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der den »Schutz religiöser Gefühle« als Schranke der Kunst- und Meinungsfreiheit anerkannt hat (271), unter den eben genannten und weiteren Gesichtspunkten kritisiert. Auf der Ebene des universellen Menschenrechtsschutzes werden die Resolutionen der UN-Menschenrechtskommission und des UN-Menschenrechtsrats, die unter dem Titel »Combating Defamation of Religion« einen Schutz religiöser Inhalte für menschenrechtlich geboten erklären, gar als »haltlos« bezeichnet (358). Eine Parallele zum anerkannten Verbot der rassistischen Hassrede lässt sich allenfalls dann ziehen, wenn eine öffentliche Hetze ein Gefahrenpotential entwickelt, das in der Lage ist, gesamtgesellschaftliche Verwerfungen zu produzieren. – Insgesamt liegt eine ausgezeichnete Abhandlung zur lohnenswerten Lektüre vor.