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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1163–1165

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Esch, Tabea M.

Titel/Untertitel:

»Freie Kirche im freien Staat«. Das Kirchenpapier der FDP im kirchenpolitischen Kontext der Jahre 1966 bis 1974.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2011. XV, 614 S. = Beiträge zur his­torischen Theologie, 157. Lw. EUR 124,00. ISBN 978-3-16-150617-8.

Rezensent:

Sybille C. Fritsch-Oppermann

Mit dem FDP-Kirchenpapier »Freie Kirche im freien Staat« stellte in den 1970er Jahren erstmals seit Bestehen der BRD eine regierungsverantwortliche Partei die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche infrage. Ähnlich wie in der derzeit in Variationen wie­derbelebten Debatte wurde auch in den Jahren 1973 und 1974 häufig auf Seiten der Verfasser des Papiers und mehr noch im Kreis der jungen Liberalen eine »Trennung von Kirche und Staat« gefordert, obwohl eine solche in der BRD grundgesetzlich – hier auf die entsprechenden Artikel der Weimarer Verfassung zurückgehend – gesichert ist (so wie es seit je von der Aufklärung, aber auch vom Protestantismus gefordert wurde). Gemeint war und ist daher also wohl die als Laizismus bekannte und beispielsweise in Frankreich, aber auch in der Türkei (!) grundgesetzlich verankerte absolute Trennung. Die mit dem Grundgesetz der BRD gegebene Trennung hingegen (auch als »hinkende Trennung« bezeichnet) ist eine, die sehr wohl die Kooperation von Staat und Kirche(n) befürwortet.
Nach einer hilfreichen und als Rüstzeug zur Lektüre nötigen Einleitung der als Dissertation im Sommersemester 2008 von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommenen Studie von Tabea Esch (inklusive Forschungsüberblick, Ausführungen zu Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse, Quellenlage, Aufbau der Arbeit und zur Frage der Einbettung des Kirchenpapiers in die Entwicklungen der Jahre 1966 bis 1974) folgen zunächst in einem ersten von vier Kapiteln notwendige Hintergrundinformationen und Zusammenhänge das Verhältnis der FDP zu den beiden Großkirchen betreffend (1949–1969 bzw. 1972). Grundzüge liberaler Kulturpolitik und die Forderung der Trennung von Politik und Religion werden erläutert.
Das zweite Kapitel befasst sich mit dem Kirchenpapier »Liberalismus und Christentum« der Jungdemokraten und verdeutlicht seine Entstehung aus einem Wandel sozialliberaler zu radikalde-mokratischen Grundhaltungen, der mit einer neuen Rezeption kri­-tischen Rationalismus’ einherging. Der Anfang einer ausführlichen Debatte des Verhältnisses von Kirche und Staat 1971 bei den nord­-rhein-westfälischen Jungdemokraten wird ebenso dargelegt wie die enge Zusammenarbeit mit der Humanistischen Union und die hieraus resultierenden dezidiert »antiklerikalen Aktivitäten«. Die ge­meinsamen Aktivitäten werden nachvollzogen, aber auch das letztliche Scheitern einer Kooperation an Unterschieden in der Personal- und Sozialstruktur, finanziellen Engpässen, unterschiedlicher Ge­wichtung der Thematik und wohl auch unterschiedlicher Homogenität der Gruppen verdeutlicht. – Die »Karriere« des Kirchenpapiers in Landes- und Bundesdelegiertenkonferenz wird ebenso nachgezeichnet wie erste Reaktionen aus FDP und Kirchen etc.
In einem dritten Kapitel geht es dann um die Kirchenthesen der FDP »Freie Kirche im freien Staat« von ersten Beratungen auf höchs­ter Ebene (Bundesvorstand und Präsidium), über die Bildung einer Kirchenkommission, verschiedene Entwürfe und Diskussionen um eine Präambel, schließlich Endfassung und weitere Beratungen in den Gremien der Bundespartei und innerparteiliche Diskussion in den FDP Landesverbänden. Neben einer eher grundsätzlich verfassungstheoretisch argumentierenden Präambel enthielt das Papier schließlich 13 präzise Thesen zu einer Sicherung und Erweiterung von Freiheit, über (kirchliche) Ansprüche auf Traditions- und Be­sitzstandswahrung und über die Notwendigkeit von Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sowie das Recht auf freie Religionsausübung (weniger auf negative Religionsfreiheit).
Kapitel 4 widmet sich ebenso ausführlich und kenntnisreich der Rezeption und Diskussion des Kirchenpapieres in EKD und Landeskirchen. Auch die »Nachwehen« werden beschrieben, hergeleitet und analysiert: »War es ein Anliegen der EKD gewesen, die Kirchenpapierdiskussion mit der Ratserklärung zu einem relativen Ab­schluss zu bringen, so verlangten ihr die Ereignisse der Folgezeit weitere Reaktionen ab. Innerhalb des Rates zeigte sich dabei die bekannte Tendenz, diese möglichst privatim erfolgen zu lassen, was freilich nur bedingt möglich war.« (541) Eine gewisse Bedeutung des Kirchenpapiers lag, so E., jedoch darin, dass insbesondere in den Gliedkirchen der EKD eine intensivere und differenziertere Auseinandersetzung mit ihm erfolgte als auf Ratsebene. E. geht davon aus, dass eine Untersuchung der Diskussionsprozesse in den Ge­meinden und Kirchenkreisen ein noch größeres Echo ergeben könnte.
Erwähnt seien das hilfreiche Resümee auf den Seiten 553 ff. sowie die Anhänge mit Antrag des Kreisverbandes Hagen der Deutschen Jungdemokraten, Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz Ende Januar 1973, sowie die Thesen »Freie Kirche im freien Staat« vom August 1973, die Fassung des Bundesvorstandes vom 14.09.1974 und die Thesen des Beschlusses des 25. Bundesparteitages in Hamburg vom 30.09.–02.10.1974.
Auch der gegenwärtige Diskurs um das Verhältnis von Kirche/ Religion und Staat wurde ausgelöst durch Forderungen und Pa-piere der jungen Liberalen und der Humanistischen Union. Nicht mehr die zunehmende Liberalisierung und Demokratisierung, auch nicht die etwas später einsetzende Säkularisierung unserer Gesellschaft bilden nun aber die Folie, vor der hier diskutiert wird: Es ist vielmehr die stetig wachsende Multikulturalität und Multireligiösität im »Einwanderungsland Deutschland«, die sie erneut aufzudrängen scheint. Das führt zu Vermischungen und Ungenauigkeiten. Hier und da werden wieder Rufe nach einer strikt laizistischen Verfassung laut bei gleichzeitiger Befürwortung des konfessionellen Religionsunterrichtes für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Kritik am Kirchensteuersystem wird geäußert, ohne über die dann nur folgerichtigen Auswirkungen auf die jüdische Kultussteuer nachzudenken. Besonders heftige Kritik regt sich an der Bezuschussung sozialer kirchlicher Einrichtungen durch den Staat nach dem, auch für andere geltenden, Subsidiaritätsprinzips bei Beibehaltung »rechtlicher Sonderwege« überwiegend für die Kirchen. Aber bei aller berechtigten Kritik an einzelnen Realisierungen des »Kooperationsprinzips« hieße es doch wohl, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man von hier auf die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung schließen zu müssen meinte. Und dies noch dazu ohne klares laizistisches Ge­genkonzept, ja vielmehr mit einer gänzlich unliberalen Forderung nach säkular genannten, aber wohl doch eher pseudoreligiösen Grundsätzen. Die Gefahr eines »Fundamentalismus der Moderne«, eines starren und noch nicht oder nicht mehr »geläuterten Liberalismus« des 19. Jh.s, wie er in der hier besprochenen Studie beschrieben wird, die Gefahr einer Ideologisierung der Freiheit von Individuen zum Nachteil sozialer Gerechtigkeit ist offenkundig.
Erfreulicherweise ist vieles auch für die neuere Diskussion aus dem Buch von E. zu lernen – und dies gilt für Parteien und Kirchen. Nicht wenige Diskurse hätten jedoch vermieden werden können, weil sie genauso und manchmal mit mehr Sachkenntnis schon in den 1970er Jahren geführt wurden. Dennoch kann die Arbeit als ein bisher fehlender und aktuell nötiger Beitrag zu einer Konfessionen und Religionen ebenso wie Parteien übergreifenden Diskussion gelten. Sowohl kirchengeschichtlich und theologisch bzw. am Staatskirchenrecht Interessierte als auch gesellschaftspolitisch interessierte Laien sind angesprochen und dürften bereichert aus der Lektüre hervorgehen.