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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1162–1163

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Bohrmann, Thomas, u. Gottfried Küenzlen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion im säkularen Verfassungsstaat.

Verlag:

Münster u. a.: LIT Verlag 2012. 144 S. = Schriften des Instituts für Theologie und Ethik der Universität der Bundeswehr München, 1. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-643-10842-5.

Rezensent:

Thomas Heller

Moderne Verfassungsstaaten zeichnen sich oftmals durch eine weitreichende Trennung von Kirche und Staat, Religion und Politik aus. Dennoch haben sich Kirche(n) und Religion(en) nicht ins Private »verflüchtigt«, sondern sind im öffentlichen Raum nach wie vor in hohem Maße präsent und beeinflussen in vielfältiger Hinsicht Staat und Politik – so indem sie zu gesellschaftlichen Themen öffentlich Stellung beziehen oder die Welt- und Selbstdeutung und damit auch das öffentliche Handeln zahlreicher Menschen prägen. Hinzu tritt insbesondere in Deutschland die bekannte »hinkende« Trennung von Staat und Kirche, die u. a. mit Blick auf den konfessionellen Religionsunterricht oder die Militär- und Anstaltsseel sorge erkennbar wird. Vor diesem Hintergrund widmet sich der von Thomas Bohrmann (Professor für Katholische Theologie mit dem Schwerpunkt Angewandte Ethik an der Universität der Bundeswehr München) und Gottfried Küenzlen (Professor i. R. für Evangelische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialethik an der Universität der Bundeswehr München) herausgegebene Sammelband auf 144 Seiten möglichen »Erklärungen, da [diese Entwicklung] weder mit dem traditionellen Säkularisierungsparadigma der Moderne vereinbar scheint, noch den Erwartungen entspricht, die sich zuletzt mit einem rein vernunftbegründeten politischen Willensbildungsprozess verbanden. Könnte es vielleicht sein, dass auch der säkulare Staat der Religion bedarf? Und wenn ja: in welcher Weise und in welchem Umfang? Absicht der folgenden Texte ist es, durch einen interdisziplinären Zugriff nach möglicherweise neuen Einsichten Ausschau zu halten« (7).
Eingeleitet wird die Reihe dieser Texte durch Gottfried Küenzlens grundlegenden Beitrag »Die Säkularität des Staates und die Religion«, woraufhin Beiträge von Kathrin Groh (»Das Verhältnis von Staat und Kirche aus verfassungsrechtlicher Perspektive«), Thomas Bohrmann (»Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit. Kirchliche Positionen«), Said AlDailami (»Gelebte Paradoxie. Muslimische Identität und moderner Verfassungsstaat«), Jochen Bohn (»Als ob nicht. Politische Theologie in nachmetaphysischer Zeit«), Friedrich Lohmann (»Die multikulturelle Gesellschaft. Ethische Reflexionen zwischen ›melting-pot‹ und ›laïcité‹«) und Matthias Reichelt (»Voraussetzungen säkularer Staatlichkeit. Sozialphilosophische Überlegungen zur bürgerlichen Solidarität«) folgen, be­vor schließlich ein »skeptischer Ausblick« (137) von Jochen Bohn (»Religion vs. Rechtsstaat, oder: wenn die Neutralität endet. Ein skeptischer Ausblick«) den Band abschließt. Etabliert wird so ein facettenreicher Zugriff auf das Thema »Religion im säkularen Verfassungsstaat«, der u. a. kirchengeschichtliche, systematisch-theologische, juris­tische, politische und sozialphilosophische Perspektiven vereint und damit die im Vorwort in Aussicht gestellte Interdisziplinarität (s. o.) in hohem Maße einlöst.
Zurück zur zentralen Fragestellung: »Könnte es vielleicht sein, dass auch der säkulare Staat der Religion bedarf?« (7) Konsequent unter dieser Frage gelesen liefern die einzelnen Texte hier durchaus unterschiedliche Antworten. So plädiert beispielsweise Gottfried Küenzlen in seinem Beitrag mit Blick auf das bekannte »Böckenförde-Diktum« für ein weitreichendes Angewiesensein des Staates u. a. auf Religion, da der »grundrechtsgebundene und damit auch zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität verpflichtete Staat […] auf gesellschaftliche Kräfte und Mächte angewiesen [ist], in denen er lebendig gehalten wird« (15, vgl. auch 13–15) – was freilich durch den »seit Jahren […] anhaltenden […] Prozess institutioneller Schwächung und kultureller Marginalisierung [der Kirchen]« (17 f.) wie­derum neue Problemlagen mit sich bringt (vgl. 17–19). Jochen Bohn hingegen legt eher ein spannungsgeladenes Verhältnis dar: »Gerade zwischen monotheistischer Offenbarungsreligion und Rechtsstaat liegt Streitpotential. Zum Streit kann es dann kommen, wenn eine gottesrechtlich abgeleitete religiöse Praxis und eine menschenrechtlich begründete säkulare Rechtsnorm gegeneinander stehen. Da stößt dann das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit etwa auf eine in der jüdischen Tradition zu findende Anordnung Gottes, den Bund mit seinem Volk durch die Be­schneidung von Jungen sichtbar zu vollziehen […] Wie hält es aber dann der Rechtsstaat mit der Religion, wie hält es die Religion mit dem Rechtsstaat? Wie halten sie es miteinander, wenn als offenbart ge­glaubtes Gottesrecht und säkular konstruiertes Menschenrecht in Konflikt geraten […]«? (137 f.)
Der Sammelband überzeugt, eben weil er nicht nach vordergründigen Vereinheitlichungen sucht, sondern die Vielfalt möglicher Positionen (un­ter durchaus divergierenden Fragestellungen) in den einzelnen Beiträgen argumentativ überzeugend darlegt. Wünschenswert wä­re hier allerdings noch ein ausführlicheres Vorwort (oder Schlusswort), das die einzelnen Beiträge noch konsequenter unter der zentralen Fragestellung bespricht und miteinander ins Gespräch bringt.