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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1160–1162

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Bier, Georg, u. Norbert Lüdecke

Titel/Untertitel:

Das römisch-katholische Kirchenrecht. Eine Einführung.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 280 S. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-17-021645-7.

Rezensent:

Heinrich de Wall

Die Wissenschaft vom evangelischen und die vom römisch-katholischen Kirchenrecht sind zwei völlig unterschiedliche Disziplinen. Zwar beschäftigen sie sich mit Parallelphänomenen, dem Recht der jeweiligen Kirche, und haben – jedenfalls teilweise – ähnliche Methoden. Allerdings sind die Phänomene eben nur parallel und nicht gleich und sind die Grundverständnisse von der Funktion des Rechts in der Kirche ebenso unterschiedlich wie die Vorstellungen von Wesen und Gestalt der Kirche selbst. Entsprechendes gilt für die darauf beruhenden Normen, die den Gegenstand der jeweiligen Disziplin ausmachen. Demgemäß besitzt ein evangelischer Kirchenrechtler nicht die Kompetenz, ein Buch über das römisch-katholische Kirchenrecht aus fachinterner Sicht zu bewerten, wie das auch umgekehrt gilt.
Wenn gleichwohl die vorliegende Einführung in das römisch-katholische Kirchenrecht von einem evangelischen Kirchenrechtler besprochen wird, dann aus der Außensicht einer entfernt verwandten Disziplin. Das vorliegende Buch zweier renommierter katholischer Kirchenrechtler, der eine – Georg Bier – in Freiburg, der andere – Norbert Lüdecke – in Bonn, ist überdies wegen seines didaktischen Grundansatzes von fachübergreifendem Interesse. Es führt nämlich in das römisch-katholische Kirchenrecht nicht an­hand der Systematik des Codex Iuris Canonici, des Gesetzbuchs der römisch-katholischen Kirche, oder anderer gängiger juristischer Systematiken ein, sondern hat eine problemorientierte Herangehensweise, die von einzelnen aktuellen Fragestellungen ausgeht. Es zielt auf »kompetenzorientiertes Lernen« und will so den geänderten Rahmenbedingungen und Herausforderungen des Theologiestudiums Rechnung tragen – Rahmenbedingungen, die nicht nur das Studium der katholischen Theologie betreffen. Der didaktische Grundansatz äußert sich zum einen in Hilfsmitteln, die das Verständnis fördern sollen, wie z. B. Grafiken, Fragen, Aufgaben und Lesetipps. Diese Elemente werden geschickt und in vernünf­tigem Maße in das Buch eingebunden und erleichtern so den Zugang zur Materie und die Aneignung des vermittelten Stoffes. Bisweilen wirkt aber das Bemühen um eine »flotte« Darstellungsweise skurril: Der Unterschied zwischen Klerikern und Laien wird beispielsweise unter der in Form einer Warntafel der Londoner U-Bahn wiedergegebenen Überschrift Mind the Gap erklärt.
Besonders bemerkenswert ist aber, dass das Buch von aktuellen Fragestellungen und Fällen ausgeht und daran die grundlegenden Kategorien und übergreifende Zusammenhänge erarbeitet. So wird der Zielgruppe ein anschaulicher Zugang zu den einzelnen Themen und Regelungszusammenhängen des Kirchenrechts vermittelt. Dabei werden durchweg aktuelle und in von einer breiten kirchlichen Öffentlichkeit diskutierte Themen angesprochen, ob es um Kirchenaustritt und Kirchenzugehörigkeit, um die Beteiligung von Laien an der Leitung der Kirche, um synodale Strukturen oder die Rolle der Frau in der Kirche geht. So wird auch verdeutlicht, wie aktuell und praxisrelevant das Kirchenrecht ist und wie sich grundlegende Probleme und Diskussionen über die Kirche, ihre Aufgabe und ihre Gestalt im Kirchenrecht widerspiegeln. Dieses didaktische Konzept hat Stärken und Schwächen. Seine Stärke liegt in der Anschaulichkeit und in der damit verbundenen Möglichkeit, auch den Neuling ins Kirchenrecht »mitzunehmen« und ihn für die Materie zu interessieren. Dieser Vorteil wird verstärkt dadurch, dass das Konzept auch in seiner Ausführung gut durchdacht und gut gelungen ist, wozu die gute Verständlichkeit, die auch der klaren Sprache geschuldet ist, erheblich beiträgt. Die Schwäche des Konzepts liegt darin, dass die innere Systematik und die ganz eigene Logik des kanonischen Rechts, wie sie im Codex Iuris Canonici deutlich wird, verloren geht. Das mag man im Hinblick auf die Zielgruppe verschmerzen.
Durch die klare Sprache und die Deutlichkeit der Ausführungen wird eine Eigenart des Rechts umso deutlicher: seine konservative Tendenz. Denn das Recht ist für zukünftige Fälle normgebend und tendiert daher dazu, den Stand der jeweiligen Gesetzgebung zu festigen. Relativierungen und Änderungen dieses normativen Be­standes oder – mit anderen Worten – der »Fortschritt« ist daher im Recht in einer schwächeren Position. Man wird den Vf. auch dar­-über hinaus nicht zu nahe treten, wenn man konstatiert, dass die Kritik am geltenden katholischen Kirchenrecht bei ihnen nicht im Vordergrund steht. Wer ein Werk sucht, das Entwicklungsmöglichkeiten des Kanonischen Rechts auslotet, etwa indem es danach fragt, ob und wie die Stellung der Laien oder die Stellung der Frauen gestärkt werden können, der wird mit dieser Einführung nicht bedient. Allerdings muss bei einer an den kirchenrechtlichen Laien gerichteten Einführung die Vermittlung des geltenden Rechtszustands im Vordergrund stehen, wie sie hier mit didaktischem Geschick und großer Klarheit dargeboten wird.
Die Klarheit in den Ergebnissen verdeutlicht aber aus evange­lischer Sicht auch die grundverschiedenen Vorstellungen vom Kirchenrecht zwischen evangelischer und katholischer Kirche. Das gilt insbesondere für die grundlegenden Regelungen über die Verfassung der Kirche und über das Wesen und die Funktion des kirchlichen Amtes, das gilt aber auch für den Charakter und den Stellenwert des Rechts in der Kirche oder über Fragen wie Jenseitsvorstellungen, die im römisch-katholischen Ablasswesen Ausdruck finden, das ausführlich dargestellt wird. Das evangelische und das katholische Kirchenrecht trennt ein tiefer Graben, der ebenso überwindlich bzw. unüberwindlich ist wie die Unterschiede in den zugrundeliegenden Lehren der jeweiligen Kirchen, insbesondere der Ekklesiologie. Beispiele für diese fundamentalen Differenzen bilden beispielsweise die Stellung der »Laien«, das Verständnis des Priesteramts und das Weihesakrament, die Verfassung der Kirche als hierarchische Ordnung und die Stellung der Frau.
Die Vf. bleiben nicht dabei stehen, die jeweiligen Regelungen des römisch-katholischen Kirchenrechts, etwa zur Stellung der Frau, wiederzugeben, sondern versuchen auch, diese – insbesondere aufgrund Äußerungen des Lehramts der römisch-katholischen Kirche– zu begründen. Auf den evangelischen Beobachter wirkt dabei na­mentlich die Begründung dafür, warum Frauen das Pries­teramt verschlossen bleibt, wie aus der Zeit gefallen. Es erscheint nicht einmal schlüssig, aus der überragenden Bedeutung der Fä­higkeit der Frau, Leben zu schenken, aus ihrer Rolle als Mutter und erste Erzieherin sowie aus der durch die Frau mit besonderer In­-tensität verkörperten marianischen Haltung des Hörens, Aufnehmens, der Demut und Treue (171 f.) abzuleiten, dass ihnen der kirchliche Führungsstand der Kleriker verwehrt bleibe. Aber diese aus heutiger protestantischer Sicht schwer nachvollziehbare Argu mentation ist natürlich nicht den Vf. anzulasten, sondern dem römisch-katholischen Lehramt.
Sehr deutlich wird, dass Widerspruch der Glaubenden gegen­-über lehramtlichen Äußerungen in der römisch katholischen Kirche und ihrem Recht in Gefahr steht, nicht als Anfrage, sondern als Ungehorsam verstanden zu werden (77 ff.). In der Klarheit ihrer Ausführungen hat diese Einführung für den evangelischen Kirchenrechtler einen besonderen Wert, indem sie ihm die Unterschiedlichkeit der dogmatischen Grundannahmen des römisch-katholischen und des evangelischen Kirchenrechts verdeutlicht. Den an seiner Kirche gelegentlich zweifelnden evangelischen Kirchenrechtler stärkt es in seiner Zuversicht, der richtigen weltlichen Organisationsform der einen, heiligen und im eigentlichen Wortsinn katholischen Kirche anzugehören.