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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1153–1155

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Grethlein, Christian

Titel/Untertitel:

Was gilt in der Kirche? Perikopenrevision als Beitrag zur Kirchenreform.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2013. 197 S. = Forum Theologische Literaturzeitung, 27. Kart. EUR 18,80. ISBN 978-3-374-03145-0.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben mit der Perikopenrevision begonnen und die Diskussion darüber ist in vollem Gange. In dieser Situation meldet sich Christian Grethlein mit einem ausführlichen praktisch-theologischen Zwi­schenruf und stellt das Projekt grundsätzlich infrage. S. E. stammen kirchenamtlich festgelegte einheitliche Perikopensysteme aus obrigkeitlichen Zeiten und sind in der spätmodernen Kirche unangemessen.
G.s Gegenmodell sieht vor, dass die Kirchen lediglich ein Vierfelder-Grundschema des Kirchenjahres vorgeben sollen: 1. Weih­-nachtsfestkreis unter dem Motto »Anfänglich leben«, 2. Osterfestkreis unter dem Motto »Aus dem Tod heraus«, 3. Pfingstliche Zeit unter dem Motto »Aufbruch ins Leben«, 4. Späte Zeit des Kirchenjahres unter dem Motto »Im Glauben reifen« (190 f., nach einem Papier zum Kirchenjahr der »Liturgischen Konferenz« in der EKD). Genauere Festlegungen sollen aber die Pfarrkonvente im Kirchenkreis treffen, um lokal und situativ besser auf die Lebenssituation der Menschen reagieren zu können. In Analogie zu der Entwick­lung in der Religionsdidaktik – von den Stoffplänen hin zu Rahmenplänen mit Kompetenzvorgaben – soll auch die liturgische Text-Themen-Feinplanung dezentral (und jeweils jährlich neu?) vorgenommen werden. G. schlägt ein »Moratorium« vor, während dessen an der bestehenden Ordnung nichts zu ändern wäre. Das Moratorium müsse zur eingehenden Forschung – u. a. im Hinblick auf die Lebensrelevanz biblischer Texte für heutige Gottesdienstbesucher sowie die reale Performanz biblischer Lesungen (193) – genutzt werden, wobei »in Erprobungskirchenkreisen/-de­ka­naten über einige Jahre die Auswahl der biblischen Texte in die Hand der dortigen Pfarrerschaft« gelegt werden sollte (195).
Über die Stoßrichtung der Schrift verschaffen die Einführung (11–16) und das abschließende Kapitel (179–197) einen klaren Eindruck, während im Mittelteil die praktisch-theologischen Begründungen gegeben werden: II. Geschichte der Perikopenordnungen (29–56), III. Kirchlich-gesellschaftliche Situationsanalyse (57–127, also das bei Weitem umfangreichste Kapitel), IV. Die Bibel (128–148) und V. Lesungen im Gottesdienst (149–178).
Viele der im letzten Kapitel gemachten Vorschläge sind für die künftige Praxis in der Tat von Bedeutung. Das betrifft etwa den besonderen Blick auf die real stattfindende »Kommunikation« und auf die »Performanz« im Gottesdienst (178). Hier ist noch vieles in der Praxis zu verbessern und zu erforschen. (Dabei zeigt allerdings ein Seitenblick auf die Unterrichtsforschung, dass die Prozessforschung noch wesentlich anspruchsvoller ist als Einstellungs- und Rezeptionsforschung). Bedenkenswert sind auch Erprobungsmodelle für die lokale und aktuelle Lesungswahl sowie der Hinweis darauf, dass es leicht ein »zu viel« bzw. »zu lang« bei den Lesungen geben kann (178). Das alles ist bei der begonnenen maßvollen Re­form zu berücksichtigen.
Dennoch kann ich der Grundintention der vorgelegten Schrift nicht beipflichten. Mein Haupteinwand betrifft die Generalkritik an einem Perikopensystem überhaupt. Gesangbuch, Agende und ge­meinsame Texte stehen für die Katholizität der evangelischen Kirche, in der das Subjektive und Situative kaum in der Gefahr steht vernachlässigt zu werden. Die evangelische Kirche lebt gerade aus dem produktiven Wechselspiel von »Tradition und Situation«. Sie wäre gefährdet, wenn sie dieses einseitig zugunsten des Situativen auf­-löste. Ein zweiter Gesichtspunkt ist rein praktisch: Ein längeres, also etwa 15 bis 20 Jahre dauerndes »Moratorium« (denn allein die laufende geringfügige Revision dauert nach derzeitiger Planung knapp zehn Jahre) würde bedeuten, dass einstweilen die alte Ordnung in Geltung bleiben, aber nur (noch) von den weniger Engagierten oder weniger Kompetenten benutzt würde. Damit würden aber die Probleme der noch geltenden Ordnung (zu geringe Be­rück­sichtigung des Alten Testaments, Dubletten, eine Häufung von schwierig zu predigenden Epistelperikopen) gerade nicht be­hutsam beseitigt, sondern auf Dauer gestellt. Drittens ist das situa­tive Prinzip in der evangelischen Kirche als solches schon dadurch stark, dass Ordnungen niemals Vorschriften, sondern stets Vorschläge sind. Jeder kann schon heute (mit anderen) die Texte auswählen, die aktuell sinnvoll erscheinen, und die »Kasualisierung« der Sonntagsgottesdienste muss nach meiner Einsicht nicht eigens befördert werden.
Unangemessen erscheint mir besonders G.s Lob des katholischen Ordo Lectionum Missae (OLM) als katholischer »Aufbruch« im Gegenüber zu dem evangelischen »Beharren« auf den alten Evangelien und Episteln (49–53). Denn der OLM ist erstens wirklich eine »obrigkeitliche«, a-situative Vorschrift (für die gesamte katholische Weltkirche), zweitens sind hier Altes Testament, Episteln und Evangelien entweder gar nicht oder in problematischer Weise aufeinander bezogen, und drittens will der OLM ja eindeutig den sonntäglichen Gottesdienstbesuch festschreiben. Der Sinn des OLM erschließt sich erst dem regelmäßigen Kirchgänger, den G. aber gerade als der Vergangenheit angehörend charakterisiert (61–68). Tragischerweise hat der OLM an der Schwelle zu den Umbrüchen von 1970 die Kirchgangssitte der 50er und 60er Jahre voraussetzend für die Zukunft ein am Schreibtisch entstandenes Verteilungsmodell der Perikopen nach dem Prinzip »möglichst viel Bibel im Gottesdienst« festgeschrieben. Dass viele evangelische Kirchen in der Ökumene diesem Prinzip gefolgt sind, ist allein in der – letztlich leider schlecht begründeten – ökumenischen Euphorie begründet und nicht in den pädagogischen Erwägungen, die G. propagiert. Der Hinweis auf die Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) läuft damit ins Leere (76). Denn die europäischen und amerikanischen Perikopenmodelle sind zwar vielfach am OLM orientiert, aber als solche wiederum pluriform. Der einzige Weg zu erkennbar mehr kirchlicher Einheit wäre darum für die EKD die Annahme des OLM. Dagegen aber sprechen alle genannten Gründe – vom Reformationsjubiläum ganz zu schweigen.
Insgesamt scheint mir in dieser Schrift der »Lebensbezug« auf dem Wege der Perikopenauswahl überschätzt zu sein (abgesehen von der Ideologieanfälligkeit der Pathosformel »Lebensbezug«). Die biblischen Texte sind jedenfalls so polyvalent, dass sich das individuell plausible Verstehen viel stärker in der Präsentation, mithin in der Predigt bzw. der anderweitigen Darstellung entscheidet als in der Textwahl. Wenn man schließlich so sehr, wie das hier ge­schieht, die »Kommunikation« und die »Ergebnisoffenheit« des gottesdienstlichen Mitteilens und Verstehens betont, dann sollte hinzugefügt werden, dass Offenheit nicht Beliebigkeit meint. Pädagogisch gesehen sind Kommunikationsprozesse in der Tat offen, soteriologisch aber gilt der Vorrang eines bestimmten Inhaltes, der als nicht zur Disposition stehend angenommen wird. Das betrifft den Vorrang der Barmherzigkeit vor der Macht, der Liebe vor der Stärke und des Evangeliums vor dem Gesetz. Damit hat die kommunikative Ergebnisoffenheit ein ihr immer schon vorausliegendes Fundament.
Auf jeden Fall muss in den Zeiten der von G. beschriebenen Pluralisierung noch genauer liturgisch und homiletisch gearbeitet werden. Wenn das künftig auch durch Pfarrkonferenzen und Mitarbeiterkreise geschieht, ist das sehr zu begrüßen und in jeder Weise förderungswürdig. Allein ist dadurch die gesamtkirchliche und liturgiewissenschaftliche Verantwortung für die Perikopenordnung keinesfalls zu ersetzen.