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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1151–1153

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Conrad, Ruth

Titel/Untertitel:

Kirchenbild und Predigtziel. Eine problemgeschichtliche Studie zu ekklesiologischen Dimensionen der Homiletik.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XVII, 501 S. = Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 11. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-151931-4.

Rezensent:

Hasko von Bassi

»Die Praktische Theologie wird eine Theorie sein – oder sie wird nicht sein.« Mit diesen Worten hat Dietrich Rössler im April 1984 seinen Kieler Gastvortrag über »Die Subjektivität der Religion« geschlossen. In Rösslers Tradition warnen seit einigen Jahren zwei Praktische Theologen der jüngeren Generation, der Göttinger Bernd Schröder und der Münchener Christian Albrecht, davor, Praktische Theologie zu verwechseln »mit der Praxis, auf die sie bezogen ist«. Und wie anders könnte die nötige Theoriebildung sich vollziehen, wenn nicht durch historische und systematische Reflexion?
In diesem Sinne haben Schröder und Albrecht als Herausgeber der bereits jetzt schon verdienstvollen Reihe »Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart« gemeinsam mit dem Verlag Mohr Siebeck ein Forum geschaffen »für historisch versierte und systematisch ausgewiesene Studien zur Praktischen Theologie«. Eine solche Studie ist hier nun anzuzeigen. Es handelt sich um die Habilitationsschrift der Tübinger Privatdozentin Ruth Conrad.
C. entfaltet die ekklesiologischen Dimensionen der Homiletik am Beispiel von sechs Vertretern der Predigtlehre des 19. und frühen 20. Jh.s, denen jeweils ein ausführliches Kapitel – das erste allein umfasst mehr als 100 Seiten – gewidmet ist. Diese sechs historisch rekonstruierenden Kapitel wiederum werden jeweils im Doppelpack zu drei thematischen Teilen zusammengebunden, in de­nen das Predigthandeln unter den Gesichtspunkten der Rhetorik, von Frömmigkeit und Amt sowie der Erziehung betrachtet wird.
Basis der Überlegungen sind die homiletischen Entwürfe von Adam Müller (1779–1829), Franz Theremin (1780–1846), Rudolf Stier (1800–1862), August Vilmar (1800–1868), Heinrich Bassermann (1849–1909) und Friedrich Niebergall (1866–1932). Die Auswahl er­folgt gut begründet unter chronologischen, konfessionellen, rezeptionsgeschichtlichen, konzeptionellen und frömmigkeitsgeschichtlichen Gesichtspunkten.
Ihre Fähigkeit, große Stoffmassen souverän beherrschen zu können, hat C. bereits in ihrer Dissertation (Lexikonpolitik, ThLZ 134 [2009], 967–970) eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, die Untersuchungen jetzt im Einzelnen zu referieren. Hervorzuheben ist, dass die Vorstellung und Analyse der verschiedenen homiletischen Konzepte mit hoher sprachlicher Klarheit erfolgt, was C. schlicht deshalb gelingt, weil sie ihren jeweiligen Gegenstand wirklich durchdrungen hat, wie der Leser auf allen Seiten des Buches spürt. Das überaus reich haltige Quellen- und Literaturverzeichnis dokumentiert die gründliche Fundamentierung der Studie und es ermöglicht dem Leser zugleich eine bibliographische Entdeckungsreise. Und der Exkurs »Leib, Körper, Organismus: Aspekte einer Metapher« (64–72) ist ein echtes Kabinettstück und einer der Gründe, weshalb man dieses gelehrte Buch mit Gewinn liest.
Anhand der ausgewählten historischen Homiletik-Konzeptionen führt C. den Nachweis, dass Predigtlehre – ausgehend von CA 7 – sachgemäß als eine Funktion der Ekklesiologie beschrieben werden kann, dass also die Auffassung von Wesen und Funktion der Predigt wesentlich dadurch bestimmt wird, welches Kirchenbild zugrunde liegt. – Wird Predigt als Spezialfall einer allgemeinen Rhetorik be­schrieben, so geschieht dies vor dem Hintergrund einer Ekklesiologie, die Kirche in enger Beziehung zu Gesellschaft und Staat sieht (59). Wird Predigt als »Redegattung sui generis« (416) betrachtet, so wird die Ekklesiologie darauf gerichtet sein, Kirche in ihrer Unterschiedenheit zu anderen menschlichen Vergemein schaftungsformen hervorzuheben. Wird Homiletik als Erziehungsaufgabe formuliert, so deshalb, weil der Kirche als solcher eine erzieherische Funktion zugeschrieben wird (vgl. 421). Und je nach Kirchenverständnis bestimmt sich auch das Verhältnis von Predigt und Abendmahl bzw. Eucharistie. Eine Nachordnung der Predigt ist ebenso wie ihre mögliche Vorordnung in der Ekklesiologie begründet (78 f.).
Zentral bei allen Überlegungen ist Schleiermachers Unterscheidung von darstellendem und wirksamem Handeln. Wird Predigt dem wirksamen Handeln zugeordnet, so geschieht dies häufig im Kontext einer vorangehenden Krisenanalyse in gesellschaftlicher und/oder kirchlicher Hinsicht (419). Schleiermachers Unterscheidung von darstellendem und wirksamem Handeln hat auch Be­deutung für das Bild vom Hörer, das die jeweilige homiletische Theorie voraussetzt, denn Predigt als darstellendes Handeln betont »die vorauszusetzende Gleichheit der religiösen Bewusstseinslage zwischen Prediger und Hörer und lehnt die Unterscheidung in Bekehrte und Unbekehrte, Wiedergeborene und Noch-nicht-Wie­dergeborene« ab, während umgekehrt eine Theorie der Predigt als wirksames Handeln den Hörer »in Glaubensfragen als defizitär be­ziehungsweise zumindest als verbesserungsbedürftig« ansieht (423).
Zu Recht hat C. zu Beginn die Überzeugung geäußert, »dass der Rekonstruktion des kausalen Zusammenhanges zwischen Kirchenbild und Predigtverständnis eine hohe hermeneutische Erschließungskraft auch im Hinblick auf gegenwärtige praktisch-theo­-lo­gische Problemkonstellationen eignet.« (5) C. deutet mögliche Konsequenzen ihrer Untersuchung für die Gegenwart schließlich nur zart und freundlich formuliert an, wenn sie anregt, die homiletische Ausbildung »noch einmal sorgfältig […] auf ihre ekklesiolo­gische Fundierung und Kontextualisierung zu überprüfen« (438).
Historisch-systematische Reflexion der homiletischen Praxis wäre ja die Voraussetzung für die von manchen gewünschte He­bung der evangelischen Predigtkultur. Mit guten Gründen hat Friedrich Wilhelm Graf in den letzten Jahren über die Trivialitäten der Kirchentagstheologie Klage führt: »Es gibt nun sehr viel symbolische Kommunikation. Es werden Kerzen von links nach rechts getragen und so weiter. Das ist auch alles schön und wichtig. Aber Wortkultur, Predigtkultur war einst ein ganz wichtiges Kennzeichen des Protestantismus.« (FAZ vom 27.03.2011) Graf hat unter Bezugnahme auf Hegel immer wieder daran erinnert, dass der Protestantismus sich einmal als »denkende Religion« verstanden hat.
In der Tat: Von hier aus betrachtet gäbe es Anlass, den Niedergang der evangelischen Predigtkultur zu beklagen, der optisch begleitet wird von Absonderlichkeiten wie dem weitverbreiteten Amtstracht-Crossover mit priesterlichen Accessoires in Form von merkwürdigen Stolen über dem schlichten Gelehrtentalar. Natürlich lässt dies eine tiefgreifende Verunsicherung hinsichtlich der Grundlagen evangelischen Glaubensverständnisses befürchten.
Von dem Hintergrund von C.s Studie mit ihrem Ergebnis »Die Predigt ist das darstellende Handeln des ihr zugrundeliegenden Kirchenbildes« (438) könnte man aber auch den Schluss ziehen, dass der zeitgenössischen moralisierenden Kanzelrede und den vielen neuen Elementen einer symbolischen Kommunikation in unseren Gottesdiensten einfach eine realistische Ekklesiologie zugrunde liegt, die von vornherein nüchtern damit rechnet, dass das intellektuell an­spruchsvolle Publikum der evangelischen Kirche längst den Rücken gekehrt hat und bestenfalls eine kleine Minderheit darstellt. Von daher wäre es ja vielleicht nur konsequent, bedarfsorientiert zu ar­beiten und halt den Bedürfnissen derer zu entsprechen, die noch da sind. Moralismus, Emotionalisierung, Eventisierung und der neue Klerikalismus wären dann also möglicherweise nur Ausdruck von Kundenorientierung – und auf hintersinnige Weise ein Beleg für die enge Verbindung von Kirchenbild und Predigtziel.
Ob man für eine solche Praxis eine wissenschaftlich-theolo­gische Ausbildung braucht, kann man natürlich fragen. Aber auch deren Problematisierung wäre ja nichts Neues, wie C. am Beispiel August Vilmars zeigt: »Eine Verortung der Theologie im universitären Kontext und ein wissenschaftliches Selbstverständnis ihrer selbst werden […] dezidiert abgelehnt.« (421)
Eine Kleinigkeit noch: Gelegentlich wird der Leser daran er­innert, dass es sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine akademische Qualifizierungsarbeit handelt, denn C. gibt an verschiedenen Stellen Erklärungen darüber ab, weshalb sie so und nicht anders verfährt oder diesen Text heranzieht und jenen nicht. Diese didaktischen bzw. apologetischen Passagen (z. B. 364f. oder 397), die im Kontext eines Habilitationsverfahrens plausibel sind, hätten für die Buchpublikation ohne Schaden entfallen können, denn die Darstellungskraft C.s ist allemal groß genug, dass man dem Gedankengang auch ohne explizite Wegbeschreibung stets folgen kann und sich immer auf sicherem Grund fühlt.
Fazit: In jeder Hinsicht liegt mit dieser Arbeit ein empfehlenswert und überzeugender Beleg dafür vor, dass eine historisch-systematisch reflektierende Praktische Theologie in hohem Maße praxisrelevant sein kann.