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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1148–1150

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Scheule, Rupert M.

Titel/Untertitel:

Gut entscheiden. Eine Werterwartungs­theorie theologischer Ethik.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg u. a.: Verlag Herder 2009. 338 S. m. Abb. = Studien zur theologischen Ethik, 125. Kart. EUR 52,00. ISBN 978-3-7278-1644-4 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-32271-6 (Herder).

Rezensent:

Alf Christophersen

Welche Entscheidung ist in ethischen Konfliktfällen die richtige? Lassen sich konkret anstehende Entscheidungen so formalisieren und vereinfachen, dass die betroffenen Akteure daraus einen Nutzen ziehen können? Und wenn ja, auf welcher theoretischen Basis kann dies geschehen, wenn gerade auch »wesentliche Aussagen des christlichen Glaubens« (12) einfließen sollen? Mit diesen Fragen setzt sich Rupert M. Scheule in seiner Habilitationsschrift auseinander, die im Winter 2006/07 von der Augsburger Katholisch-Theologischen Fakultät angenommen und von der Katholischen Akademie in Bayern mit dem »Kardinal-Wetter-Preis 2008« ausgezeichnet wurde. In Anknüpfung an den Soziologen und Wissenschaftstheoretiker Hartmut Esser präsentiert S. die »Wert-Erwartungs-« [WE-] oder auch »Rational-Choice-Theorie« als ein »theoretisches Gesamtdesign«, das dem gesuchten Anforderungsprofil zu entsprechen vermag. Entscheidungsschwierigkeiten lassen sich in ihren soziologischen Dimensionen darstellen, und eine »präskriptive Entscheidungslehre« kann entworfen werden. Beschritten wird der Weg zu einer »WE-Theorie theologischer Ethik« (15). Dabei bildet das Individuum mit seinem jeweils spezifischen Fragehorizont den Ausgangspunkt. Dezidiert erhebt S. den Anspruch, auch für ganz konkrete Anwendungsfelder, wie die Politik oder den Alltag in Kliniken, weiterführende Hilfsangebote unterbreiten zu können. Doch bevor er die anwendungsorientierte Leistungskraft seiner Reflexionen unter Beweis stellt, liefert S. im Anschluss an einleitende Bemerkungen zum Arbeitsprogramm und zur Argumentationsstruktur in neun Kapiteln einen umfassenden theoretischen und methodischen »Überbau«.
Zunächst stehen die Grundlagen der WE-Theorie, in der Nutzentheorie und Situationsdefinition verknüpft werden, auf dem Programm (25–49). Im 2. Kapitel wird die »WE-Theorie als Präskriptive Entscheidungslehre« vorgestellt (51–83), wobei vor allem Entscheidungsregeln, wie die berühmten »Bayes-«, »Laplace-« oder »Maximax-Regeln«, im Mittelpunkt stehen, die auf ihre Anschlussfähigkeit für ethische Konfliktstellungen geprüft werden. Als Ge­sellschaftstheorie wird die WE-Theorie im 3. Kapitel thema­tisiert (85– 105) und unter der Perspektive funktionaler Differenzierung be­trachtet. Die WE-Theorie erlaube es, gesellschaftliche Makrophänomene vom Individualverhalten her zu deuten. Individual- und Sozialethik werden verschränkt, indem situationsgebundene individuelle Entscheidungen auf ihr makrosoziales Aggregationspotential bezogen werden. »Aus der Optik der WE-Theorie ist die Sozialethik im Kern eine Individualethik« (101). Auf multikriteri-elle Entscheidungen richtet sich das Augenmerk des 4. Kapitels (107–126). Wie ist zu entscheiden, wenn mehrere Ziele abzuwägen sind? »Handlungsimperative zahlreicher eigenlogischer Orientierungen« (17) sind zu berücksichtigen, um dann die Dominanz be­stimmter Aspekte be­gründen zu können. Besonderen Rang weist S. der Moral zu; denn »erst das Vorhandensein des moralischen Be­hutsamkeits-Imperativs macht eine Entscheidung zu einer ex­klusiv menschlichen Entscheidung« (113). Die Handlungsanweisung ist klar: »Welche Entscheidungsalternative entspricht dem mora­-lischen Imperativ und darüber hinaus noch mehr anderen Imperativen als jede andere Entscheidungsalternative? Ergreife diese Entscheidung!« (117)
Kapitel 5 kann als Plädoyer für »Die Tugend des Satisficing« ge­lesen werden (127–143). Der Mensch muss maßhalten, so S. Eine Maximierungsstrategie hilft nicht weiter. Das Anspruchsniveau von Entscheidungszielen ist entsprechend zu justieren. Auch gibt sich S. sicher: »Wichtig ist, dass du überhaupt irgendwann deine Ziele für erreicht hältst, statt immer danach Ausschau zu halten, ob es nicht noch mehr zu holen gäbe« (143). Mit Kapitel 6 wird die Komplexitätsstufe noch einmal erhöht, indem eingliedrige und mehrgliedrige Entscheidungen ins Spiel gebracht werden (145–179). Gegenwärtige und zukünftige Entscheidungen sind dabei aufeinander verwiesen. Welche Veränderungsmöglichkeiten bestehen langfristig, wenn heute so oder anders entschieden wird? Wenn endgültige Entscheidungen vermieden werden, um möglichst viele Optionen offenzuhalten, wächst der Freiheitsrahmen. Eine sich daraus ergebende Einsicht lautet: »Entscheide so, dass es auch morgen noch etwas zu entscheiden gibt!« (179) Strategische Situationen werden im 7. Kapitel aufgegriffen (181–232). Jetzt ist es nicht mehr nur eine Person, um die es sich dreht, sondern mindes­tens zwei »rationale Egoisten« stehen sich gegenüber und müssen überlegen, ob es besser ist, zu kooperieren oder zu defektieren. S. spricht sich dafür aus, Entscheidungen möglichst auf kleine Gruppen zu verlagern und eine robuste »Tit for Tat«-Strategie zu präferieren, der zufolge sich das eigene Verhalten an den jeweiligen Reaktionen des Gegenübers ausrichtet, dies macht einen berechenbar und als Kooperationspartner attraktiv. Diese Haltung bewährt sich auch im Bereich der Gruppenentscheidungen (Kapitel 8, 233–261). Der kooperativen und diskursiven Entscheidungsfindung gilt die Sympathie S.s, getragen von der Annahme, dass »die Demokratie auf Dauer nur so stark ist, wie demokratische Akteure moralisch sind« (20). Schließlich wird auch (Kapitel 9, 263–281) die ›Organisation‹ in den Argumentationsgang einbezogen, insofern sie in ihrer »Polylingualität« (Josef Wieland) dem Individuum Entscheidungsbedingungen vorgibt. Am Beispiel des Krankenhauses un­terstreicht S. die Relevanz seines Zugriffs, sind hier doch medi-zinisch-ärztliche, pflegerische, ökonomisch-administrative, seelsorgerliche und patientenseitige Perspektiven in einen Ausgleich zu bringen, der etwa auch in klinischen Ethikkomitees rational artikuliert werden kann.
Vor der beeindruckenden Hintergrundkulisse der von ihm breit entfalteten WE-Theorie zeigt S. in einem 10. Kapitel auf, wie sich dieser Ansatz im Kontext einer »Multidisziplinären ethischen Fallbesprechung in schwierigen Entscheidungssituationen« [MEFES] gestalten lässt (283–302).
Am Beispiel des »Schlaganfallzentrums Augsburg-Schwaben« gelingt es S. überzeugend, die Leis­tungsfähigkeit seines Konzepts zu verdeutlichen, wenn er etwa die Alternative »Therapiebegrenzung« oder »Therapieeskalation« ge­genüberstellt. Die MEFES-Sitzungen werden mit dem Ziel einberufen, ein visualisierbares Votum zu erarbeiten, das anstehende Entscheidungen durchsichtig werden lässt und erheblich erleichtert. Jeder teilnehmenden Person wird dabei zugemutet, ein eigenes moralisches Urteil zu fällen, da Moral »weder delegations-, noch dispensionsfähig« (292) ist. Als die »größte Stärke« der WE-Theorie gibt S. in seinem Fazit (303–310) die »Formalisierung konkreter Entscheidungen« an, allerdings bleibt, konstatiert er, auch hier »die apriorische Tragik der Entscheidung, dass das Eine zu Lasten des Anderen gewählt werden muss« (309).
Am Ende steht bei aller Faszination für die Entlastung, die Formalisierungen bewirken können, die Ahnung im Raum, dass Entscheidungen sich schließlich doch vollständiger Transparenz entziehen. Den Akzent aber auf die Begründungsnotwendigkeit so gelegt zu haben, dass es dabei auch zu praktikablen Verfahrensweisen kommt, Entscheidungsprozesse in Institutionen zu gestalten, ist die besondere Qualität der vorliegenden Studie.