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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1146–1148

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mühling, Markus

Titel/Untertitel:

Systematische Theologie: Ethik. Eine christliche Theorie vorzuziehenden Handelns.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 320 S. m. 36 Abb. = Basiswissen Theologie und Religionswissenschaft (UTB M), 3748. Kart. EUR 26,99. ISBN 978-3-8252-3748-6 (UTB).

Rezensent:

Georg Neugebauer

In den geistes- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen sind Überblickswerke gefragt wie nie zuvor und ihr Erscheinen spiegelt damit auf spezifische Weise die Umstrukturierung der Hochschullandschaft in Deutschland wider. Auch innerhalb der Theologie ist dieser Trend unübersehbar und die hier zu besprechende Arbeit des Lüneburger Systematikers Markus Mühling schlägt in ebendiese Kerbe. Sie zielt darauf, »Basiskompetenz« (9) ethischer Reflexion zu vermitteln. Doch will sie nicht allein in vielfältige Themenfelder und Probleme der Ethik einführen. Darüber hinaus unternimmt sie den Versuch, ein ethisches Programm zu entfalten, das eine »Theorie des vorzuziehenden oder vorzüglichen Handelns« (9) zum Gegenstand hat.
Der Aufbau des Buches ist insofern interessant, als er aus der Struktur eines Handlungsbegriffs abgeleitet wird, dessen zentrales Kriterium die »absichtsvolle Wahl« (17) ist. Ausgehend von dieser Bestimmung spezifiziert der Vf. ihn als einen mehrstelligen, relationalen Handlungsbegriff und den jeweiligen Relaten wird in zehn Kapiteln eine Vielzahl zentraler theologischer und philosophischer Konzepte der Ethik, die von der Antike bis in die Gegenwart reichen, zugeordnet. Bevor er sich jenen Konzepten zuwendet, stellt er einige grundsätzliche Überlegungen zum Gegenstand, enzyklopädischen Ort sowie zu unterschiedlichen Varianten ethischer Reflexion an. Glossar, Literaturverzeichnis, Namen-, Bibelstellen- und Sachregis­ter sowie »Fazitfragen«, die sich auf die einzelnen, grau unterlegten Kurzzusammenfassungen innerhalb der einzelnen Kapitel beziehen und anhand derer die Leser ihre aus der Lektüre gewonnenen Kenntnisse testen können, schließen das Buch ab.
Mit dem über den Handlungsbegriff eingeführten Personenbegriff, den der Vf. vom – seiner Auffassung nach – äußerst missverständlichen Begriff des Individuums (vgl. 53) abgrenzt, ist der neu­ralgische Punkt seiner Ethikkonzeption markiert. Um dem Personenbegriff eine »fundamentalethische Bedeutung« (235) be­scheinigen zu können, beruft sich der Vf. auf einen weniger be­kannten Theoretiker des Personenbegriffs, auf den mittelalterlichen Mönch und Theologen Richard von St. Victor. Dieser habe die Definition eines relationalen Personenbegriffs formuliert, die als »unübertroffen«, »genuin« theologisch und paradigmatisch zu bewerten sei. Dieser Definition zufolge müsse eine Person als »incommunicabilis exsistentia (unmittelbares Voneinander-und-Füreinandersein)« (243) begriffen werden. Diese hochabstrakte Bestimmung wird sodann mit einem vom Vf. als konkret bezeichneten Gottesgedanken verknüpft, der offenbarungs- und trinitätstheologisch spezifiziert und auf die Begriffe der Liebe und – schließlich wieder – des Handelns hin zugespitzt wird. Vor dem Hintergrund dieser teilweise schwer nachvollziehbaren Voraussetzungen versucht der Vf. die erstaunliche These einzulösen, dass die Begriffe »praxis«, »ethos« und »Ethik« (248) primär mit dem Gottesgedanken verknüpft seien und erst sekundär vom Menschen ausgesagt werden könnten (vgl. 235).
Die für die Synthese von Personenbegriff und Gottesgedanken maßgeblichen Bestimmungen fließen in die anthropologischen Grundentscheidungen des Vf.s ein, indem sie als die »externen Konstitutionsbedingungen« (252) geschaffenen Personseins instantiiert werden. In diesem Zusammenhang legt der Vf. ein besonderes Augenmerk auf die sündentheologischen Implikationen dieses Personenseins, die unter der Voraussetzung zutage treten, dass eine endliche Person jene Konstitutionsbedingungen verkennt und das heißt, sich nicht als »passiv und extern konstituiert« (252) begreift. Dann handele es sich um eine falsche »Selbsterschlossenheit« (252). Wie Letztere überwunden oder – wie der Vf. gerne sagt – zurechtgebracht werden kann, wird von ihm im Rahmen der Christologie, Pneumatologie und vor allem Eschatologie reflektiert.
Mit diesen, in erster Linie dem Bereich der Materialdogmatik entnommenen Bestimmungen sind wesentliche Prämissen be­zeichnet, unter denen das Ethikkonzept des Vf.s steht. – Er selbst fasst dieses Begründungsverhältnis unter der Formel »dogmatischer Implikativität« (47 f.). – Doch gerät damit nicht allein die eigene Position des Vf.s in den Blick, sondern zugleich der Maßstab, an dem die von ihm diskutierten Ethikkonzeptionen gemessen werden. Dass die Modelle, die auf einem anderen gedanklichen Fundament stehen als dem des Vf.s, auf diesem Wege ins Hintertreffen geraten, liegt dann in der Natur der Sache und wird durch die an ihnen geübte Kritik bestätigt. Letztere lässt eine deutliche Reserve gegenüber den oft in einem neuzeitspezifischen Sinne verwandten Begriffen wie Individualität oder Vernunft erkennen – zumindest wenn sie nicht in sündentheologischer Brechung zu stehen kommen (der Freiheitsgedanke spielt im Übrigen fast überhaupt keine Rolle). Das aber führt im Ergebnis dazu, dass vielen Konzepten der Ethik nicht die Bedeutung beigemessen wird, die sie sine ira et studio betrachtet zweifelsohne haben. So vermittelt etwa die Lektüre der Ausführungen zur Moralphilosophie Kants nicht den Eindruck, dass wir es hier mit einem Klassiker in der Geschichte der Ethik zu tun haben. Dieses Beispiel deutet bereits auf die interne Unausgewogenheit in der Anlage des Buches hin, die sich aus dem doppelten Anliegen speist, ethisches Basiswissen vermitteln und gleichzeitig eine dezidiert positionell verstandene, ethische Theorie vorzuziehenden Handelns vertreten zu wollen. Daran knüpft die grundlegendste Anfrage an das vom Vf. vorgelegte Buch an.
Zu Beginn seiner Arbeit weist er zwar explizit darauf hin, »dass eine nicht positionale, quasi-objektive Darstellung« (10) unmöglich sei, und dieser Hinweis ist durchaus berechtigt. Problematisch wird die Angelegenheit aber dann, wenn die Inanspruchnahme des Positionalitätsarguments den Eindruck vermittelt, als Legitimitätsgrundlage eines Überbietungsanspruchs gegenüber Begründungsformen ethischer Reflexion zu dienen, die vom Standpunkt des Vf.s abweichen. Ob eine solche – auch in hermeneutischer Perspektive sehr weitreichende – Maxime dem Anliegen, Basiskompetenz ethischer Reflexion vermitteln zu wollen, dienlich ist, muss allerdings infrage gestellt werden. Bedauerlich ist schließlich, dass der Vf. materialethische Themen nur zu Illustrationszwecken heranzieht. Gerade vor dem Hintergrund des von ihm dargelegten »christlichen Wirklichkeitsverständnisses« wäre es sehr interessant gewesen zu erfahren, wie es ihm gelingt, Letzteres mit den konkreten Problemen der angewandten Ethik zu vermitteln.