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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1144–1146

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fischer, Johannes

Titel/Untertitel:

Verstehen statt Begründen. Warum es in der Ethik um mehr als nur um Handlungen geht.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 176 S. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-17-022334-9.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Moral predigen ist leicht, Moral begründen ist schwer. Dass Schopenhauer mit dieser lapidaren Feststellung Recht gehabt hat, zeigt sich in allen gegenwärtigen ethischen Diskursen etwa zur Atomenergie, zur Stammzellenforschung oder zur Sterbehilfe immer wieder (23), besonders wenn tradierte Normen und Werte brüchig geworden sind und vermeintlich Selbstverständliches nicht mehr ohne Weiteres gilt. Gerade in pluralen Gesellschaften ist dies permanent der Fall, und so stellt sich die Aufgabe der Ethik, Moral zu begründen, mit umso größerer Dringlichkeit. Insofern gerät Ethik als Theorie einer menschlich guten Lebensführung hinsichtlich ihrer Motive, Inhalte und Ziele leicht in einen Zwang der theore­tischen Dauerreflexion.
Johannes Fischer, inzwischen emeritierter Professor für Theologische Ethik an der Universität Zürich und ehemaliger Leiter des dortigen Forschungsschwerpunkts Ethik, stellt nun mit seinem schön und eingängig geschriebenen Buch, das Überlegungen früherer, verstreut veröffentlichter Aufsätze und Arbeiten zusam­menfasst und weiterführt, diese übliche Aufgabenstellung der philosophischen wie auch der theologischen Ethik, nämlich reflexiv und argumentativ Moral zu begründen (11), grundsätzlich, manchmal auch allzu plakativ infrage. Als Vertreter einer solchen kritisierten Ethik-Auffassung seitens der Philosophie nennt F. beispielhaft P. Singer (70, Anm.), seitens der Theologie E. Herms und W. Härle (141.144). Denn bei aller Wertschätzung, die der Ethik in der Öffentlichkeit entgegengebracht wird, läuft sie doch mit ihrem hochkomplexen, präzisions-analytischen »Scharfsinn« eigentümlicherweise ins Leere und Wirkungslose, wie F. in seiner klaren und übersichtlichen Ein leitung (10–24) ernüchternd darlegt. Aber auf einen solchen geist-reichen Scharfsinn in der Theorie kommt es ihm auch gar nicht an, sondern vielmehr auf lebenspraktische »Klugheit«. Damit rückt F. die Ethik vom Ideal präziser Wissenschaft (scientia) ab und ordnet sie einem eher weisheitlichen Denken (sapientia) zu (106.137), wo­bei allerdings der durchaus sinnvolle kategoriale Unterschied zwischen Ethik und Moral, Theorie und Praxis nivelliert wird.
In seiner kritischer Abkehr von einem ethischen Rationalismus macht F. darauf aufmerksam, dass die Kraft des Arguments im ethischen Diskurs sowie der Begründungszwang eines ethischen Urteils im Blick auf die richtige Handlungsoption meist überschätzt werden. Denn in der Ethik geht es F. zufolge »um mehr als nur um Handlungen«, wie es im Untertitel seines Buches heißt, nämlich um einen profilierten Sinn dafür, das Wesentliche vom Unwesentlichen in einer konkreten Situation zu unterscheiden (13) und diese Situ­ation angemessen zu »verstehen«. Ein solches Verstehen entwickelt sich jedoch nicht – das haben empirische Studien gezeigt – im Kontext von Reflexion, Argument und Urteil in der irrigen Erwartung, moralische Konflikte »rational und objektiv entscheiden zu können« (23), sondern auf der Basis von durchaus ambivalenten »Emotionen« (15). Somit könnte man F.s Ethik-Verständnis als sapientialen Emotivismus bezeichnen, der sich geis­tesgeschichtlich sowohl auf alttes­tamentliche Weisheitstraditionen ( chokma) als auch auf ein antik-philosophisches Bedenken von Kardinaltugenden vor allem der »Besonnenheit« (sophrosyne) und der »Klugheit« (sophia) beziehen lässt.
Interessanterweise verbindet F. mit dem kritisierten Ideal reflexiver Ethik als rationaler Handlungstheorie die Vorstellung von freier Urheberschaft und Selbstbestimmung, die dann natürlich mit der Abkehr von einem ethischen Rationalismus zugunsten eines sapientialen Emotivismus konsequent durch die Herausstellung von Passivität und Abhängigkeit abgelöst werden muss: »Das Grundproblem des menschlichen Lebensvollzugs liegt in dem Umgang mit dieser Abhängigkeit, und dieser muss daher ein zentrales Thema der Ethik sein« (19). Die Herausstellung eines letztlich passivisch konstituierten Menschseins ist zwar inzwischen ein stereotyper Topos theologischer Anthropologie geworden, um von dieser Voraussetzung her apologetisch einen engen Zusammenhang von Ethik und Religion zu entwickeln. Allerdings warnt F. ganz im Sinne sapien­-tialer Weitsicht hier mit Recht vor unangebrachten Überbietungs- oder Exklusivitätsansprüchen (19). Keineswegs sei Moral nur und ausschließlich religiös zu begründen. Der hermeneutische Rekurs auf »lebensweltliche Zusammenhänge« (21) zeige vielmehr ein viel breiteres Spektrum von Moralverständnissen, die sich einer »marktkonforme[n] Dienstleistungsmentalität« religiöser Apologetik entziehen (23) und nicht gleich auf alle gesellschaftlichen Fragen die passenden Antworten anbieten (müssen).
Allerdings schießt F. mit seinen durchaus sympathischen Überlegungen über das selbst gestecktes Ziel hinaus, wenn er in der Auseinandersetzung mit dem ethischen Rationalismus die »Schärfung der Argumente« (24) – nämlich der eigenen – begrüßt und sich damit wiederum von dem abhängig macht, was er kritisiert. Dabei übersieht er, dass in seinem Plädoyer für das »Leben« und die »Lebenswelt« statt für den präzisen Begriff und das rationale Argument gerade das Leben in seiner oft prä- oder transrationalen, manchmal auch irrationalen Ambivalenz das moralische Problem ist und deshalb nicht die ethische Lösung sein kann und wir zur Feststellung des Richtigen, auf das auch und gerade F. so viel Wert legt, in eine reflexive Distanz zum »Leben« treten müssen, wenn wir transparent und nachvollziehbar klären wollen, nach welchen Kriterien wir das »Richtige« vom »Falschen« verantwortlich unterscheiden können (71). Denn auch die Klugheit qua Weisheit sucht (und findet) gute Gründe und Argumente – nur nicht solche mit letzten und unbedingten theoretischen Geltungsansprüchen, sondern lediglich situationsabhängig relative, aber durchaus mit exis­tentieller Relevanz und Verbindlichkeit. So gesehen müssen »Verstehen« und »Begründen« in der Ethik keine sich ausschließenden Alternativen, sondern wechselseitige Implikationen und kritische Regulative sein.