Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1142–1144

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Fischer, Johannes

Titel/Untertitel:

Sittlichkeit und Rationalität. Zur Kritik der desengagierten Vernunft.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2010. 381 S. = Forum Systematik, 38. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-17-021241-1.

Rezensent:

Svend Andersen

In diesem Band hat der Zürcher Ethiker Johannes Fischer 27 Aufsätze gesammelt, aufgeteilt unter die Titel »Fundamentalethik« und »Begriffe und Probleme praxisbezogener Ethik«. In der ausführlichen Einleitung gibt F. einen Überblick über die wichtigsten Themen, vor allem des ersten, theoretischen Teiles. Wie der Titel des Buches andeutet, bewegt sich F. nicht auf eingefahrenen Bahnen der Ethik, sondern stellt zentrale Annahmen der Mainstream-Literatur infrage. Es geht dabei vor allem um Gedankengut innerhalb der philosophischen Ethik, und so hat das Buch insgesamt einen vorwiegend philosophischen Charakter, was seine Gedankenbewegungen betrifft. Dass wir es mit einem theologischen Autor zu tun haben, wird keinesfalls verborgen, aber es zeichnet F. als Theologen aus, dass er die Auseinandersetzung mit philosophischen Problemen und Positionen als unerlässlich betrachtet.
Was nun die Überlegungen zur Fundamentalethik bzw. zur ethischen Theorie betrifft, können hier nicht alle Fragestellungen und Argumente besprochen werden, sondern es soll lediglich das Wichtigste angedeutet werden. F. zufolge leidet ein großer Teil der Ethik – verstanden als kritische Reflexion über unsere Moralvorstellungen – unter der Wahnvorstellung, sie habe es vor allem mit der Begründung von Behauptungen über die moralische Richtigkeit von Handlungen zu tun. Diese Vorstellung sei auf die Entwick-lung des Denkens der Moderne, mit seiner durch die Naturwissenschaften inspirierten Betonung von Objektivität und Rationalität, zurückzuführen.
Bei seiner Kritik der hier waltenden »desengagierten Vernunft« sind zwei Begriffe zentral: Handlung und moralische Begründung. Für eine Handlung – deren argumentativ aufzuweisende Richtigkeit ein Hauptproblem gängiger Ethik sei – ist charakteristisch, dass man bei ihrer Beurteilung von dem Motiv absehen kann. Die moralische oder ethische Qualität der Handlung – z. B. der Hilfeleistung des neutestamentlichen Samariters – ist unabhängig von der Motivation des Handelnden. Und die Richtigkeit der Handlung kann argumentativ, auf eine entsprechende Behauptung bezogen, aufgewiesen werden. Gegen dieses Bild vom moralischen und ethischen Denken stellt F. zunächst den Begriff des Verhaltens. Verhalten ist laut F.s Definition als ein Agieren in einer konkreten Situation zu verstehen, bei dem das Motiv gerade nicht ausgeblendet werden kann. Um am Beispiel zu bleiben: Das Verhalten des Samariters besteht in seiner Hilfeleistung aus Mitleid. Er hat nicht nur die Wunden des Überfallenen behandelt und ihn zur Herberge transportiert, sondern er hat Fürsorge geleistet.
Was andererseits die Begründung der moralischen Angemessenheit eines Verhaltens betrifft, spielt auch hier die Situation eine entscheidende Rolle. Wenn etwa ein Mann sein Fernbleiben von der Arbeit moralisch rechtfertigen sollte, könnte seine Begründung lauten: »Meine Frau ist schwer erkrankt und ich musste mich ihrer annehmen«. Es wird hier nicht eine Handlung deduktiv einer Moralregel oder einem ethischen Prinzip untergeordnet, sondern eine konkrete Situation vergegenwärtigt. Und zwar wird nicht de­skriptiv auf die Situation verwiesen, sondern sie wird narrativ dargestellt, welches per se einen evaluativen bzw. normativen Aspekt beinhaltet. Die Begründung beruht eben auf der Überzeugungskraft der narrativen Darstellung der konkreten Situation. Um die Angemessenheit des Verhaltens einzusehen, muss man sich nicht dem »Zwang des besseren Argumentes« ergeben, sondern sich in die konkrete Situation versetzen.
Ein Kernbestand des ethischen Lebens ist somit nach F. das Auffassen von konkreten Situationen und des Verhaltens in ihnen. Dieses Auffassen ist wie gesagt narrativ strukturiert, wird aber auch als Wahrnehmung bzw. Perzeption charakterisiert. F. vertritt nicht einen ethischen Realismus in dem Sinne, dass er so etwas wie moralische Tatsachen als vom Menschen unabhängige Gegebenheiten annimmt. Er schließt sich vielmehr einer Analogie des Philosophen John McDowell an, der zufolge ethische Phänomene wie Farben sowohl subjektabhängig als auch intersubjektiv sind. Bei der Wahrnehmung von Situationen kehren bestimmte »Mus­-ter« wieder, etwa »hilfsbedürftiger Mensch« oder »Tötung eines Menschen«. Dank dieses Begriffes entgeht F. der Alternative zwischen Einmaligkeit der Situation und Allgemeinheit der Regel bzw. des Prinzips: Der situativ aufgefasste Mensch ist sowohl Individuum als auch Typus.
Dem Charakter des generalisierten Individuums entspricht nach F. auch der Nächste der biblisch-christlichen Ethik. Überhaupt sei das christliche Ethos grundsätzlich »am Einzelnen orientiert« (160). Sporadisch kommt auch die Eigenart protestantischer bzw. lutherischer Ethik zur Sprache. So beinhalte die Rechtfertigungslehre eine Entmoralisierung in dem Sinne, dass der Christ seine Aufmerksamkeit nicht auf das eigene richtige Handeln richte, sondern auf das Bedürfnis des Mitmenschen. Genau dies sei der »Richtungssinn« der Liebe bei Luther. Einen entscheidenden Zug christlicher Ethik sieht F. in der Tatsache, dass hier das moralische Verhalten innerhalb einer Deutung der gesamten Lebenswirklichkeit betrachtet wird. Die theologische Ethik berührt hier religions philosophische Fragestellungen. F. weist etwa das Anliegen der traditionellen Gottesbeweise ab, sofern hier Gott innerhalb der gegebenen Welt lokalisiert werde. Demgegenüber versteht er den Gottesglauben als umgekehrte Lokalisierung: Hier lokalisiere sich der Mensch »im Raum der Wirklichkeit und Gegenwart Gottes« (190).
Im zweiten Teil des Buches setzt sich F. mit Fragen der kon-kreten Ethik auseinander: Suizid, Krankheit, Sterbehilfe, Umgang mit vorgeburtlichem Leben. Insbesondere zum Letzteren hat er im Vergleich zu kirchlichen Verlautbarungen eine kontroverse Auffassung.
Dieser Teil enthält jedoch auch Beiträge zu grundlegenderen Fragen, indem hier Grundbegriffe der Sozialethik bzw. politischen Ethik behandelt werden. Menschenwürde und Menschenrechte sind nach F. nicht von der (menschlichen) Natur her zu verstehen, sondern vom Grundzug der sozialen Welt her. Während die Dinge der Natur sind, »was sie sind«, sei die soziale Welt in Anerkennung und Achtung begründet. Ein Mensch erhält durch Anerkennung einen bestimmten sozialen Status, und es wird ihm dank dieses Status eine entsprechende Achtung geschuldet. Die Menschenwürde beruhe auf einer Anerkennung eines Menschen als Zugehörigem zur umfassenden menschlichen Gemeinschaft, und aus der Menschenwürde ergäben sich die Menschenrechte.
Ein zweiter sozio-politischer Grundbegriff ist die Gerechtigkeit. F. unterscheidet zwischen einer egalitaristischen und einer non­-egalitaristischen Version des Begriffes und behauptet den Vorrang der letzteren. Nonegalitaristisch sei diejenige Gerechtigkeit, die auf einer durch Anerkennung konstituierte Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhe, und erst im Rahmen einer solchen Zugehörigkeit könne sinnvollerweise von egalitärer Gerechtigkeit geredet werden. Eine theologische Dimension bekommt die Diskussion durch Einbeziehung des Themas »Gerechtigkeit und Liebe«.
Obwohl das Vorhergehende in keiner Weise dem Gedankenreichtum des Buches gerecht wird, seien abschließend einige kritische Fragen gestellt.
Dem dänischen Leser muss die Verwandtschaft mit dem ethischen Denken Knud E. Løgstrups auffallen. Der Gegensatz zwischen abstraktem, prinzipiengeleitetem Argumentieren und konkretem, situations-bezogenem Denken spielt bei Løgstrup eine prominente Rolle, etwa in dem Buch »Norm und Spontaneität«. Auch gibt es eine große Ähnlichkeit zwischen F.s »Verhaltensgestalten« und Løgstrups »souveränen Daseinsäußerungen«. Ein Einbeziehen dieses Klassikers lutherischer Ethik hätte die Argumentation noch differenzierter machen können.
Kritische Fragen ergeben sich in Bezug auf F.s Theorie der moralischen Perzeption: Sie scheint sowohl biologisch-neurologisch fundiert als auch kulturell geformt zu sein. Ist dann aber die von F. gescholtene Position des Naturalismus wirklich überwunden? In dem Zusammenhang würde man sich eine wirkliche Diskussion der Tradition des Naturrechts wünschen, die es ja auch in einer lutherischen Variante gibt. Hier wären zudem Fragen zu F.s Auffassung der Menschenrechte als sozial konstituiertem Begriff zu stellen.
Dass sich solche grundsätzlichen Fragen ergeben, zeugt aber letztlich von dem tiefgreifenden und gedankenreichen Charakter des Buches.