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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1140–1142

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ammann, Christoph, Bleisch, Barbara, u. Anna Goppel[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Müssen Ethiker moralisch sein?Essays über Philosophie und Lebensführung.

Verlag:

Frankfurt a. M. u. a.: Campus 2011. 327 S. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-593-39613-2.

Rezensent:

Michael Roth

Der Frage, ob Ethiker und Ethikerinnen moralisch sein müssen, geht diese – in jeder Hinsicht gelungene – Aufsatzsammlung nicht nur in Essays, sondern auch in Interviews mit Peter Singer, Susan Wolf, Rüdiger Bittner, Julian Nida-Rümelin und Michael Ignatieff (147–157) sowie einem Gespräch zwischen Walter Pfannkuche und Ulla Wessels (23–33) nach.
Eine erste Reihe von Beiträgen widmet sich der Frage nach »Ethik und Lebensführung«. Konrad Paul Liessmann (34–46) hält die Frage nach der Moral der Ethiker für »weniger brisant als allgemein angenommen«: »Für die philosophische Konsistenz einer Moralphilosophie ist es unerheblich, ob sich die Autoren und Vertreter dieser Philosophie daran auch halten.« (44) Gernot Böhme (47–58) bringt – im Anschluss an Kierkegaard – den Begriff »Ernst« ein; denn Ethiker müssen – so Böhme – nicht nur Positionen analysieren und begründen, sondern auch tatsächlich vorliegende Fälle beurteilen. Urteilskraft aber sei »nicht lehrbar, sondern sie wächst mit der Lebenserfahrung und bildet sich heraus aus dem Charakter einer Person« (51). Stephan Schlothfeldt (59–70) sieht in dem Auseinanderklaffen von normativ-moralischem Urteil und mangelnder Motivation, sich in seinem Handeln danach zu richten, keine Falsifizierung des moralischen Urteils, weil dies »die Moral zu einem vollständig subjektiven Phänomen« (65) erklären würde. Schlothfeldt unterscheidet daher zwischen dem moralischen Urteil und der Handlungs- und Motivationsebene.
Norbert Anwander (71–84) hält die Frage nach der moralischen Autorität des Ethikers für falsch, weil das, was der Ethiker zu bieten habe, die Gründe seien, die er für seine These vorbringe. Rationale Glaubwürdigkeit leide nicht darunter, dass die Vertreter einer moralischen Lehre im eigenen Leben hinter deren Anforderungen zurückbleiben (vgl. 78). Christian Seidel (85–100) zeigt mit der Frage nach Moralismus und Willensschwäche zwei Fehlwege auf: Während der Moralist die Frage nach der Moral zu ernst nehme, nehme der willensschwache Mensch diese zu leicht (vgl. 99). Ludwig Siep unterscheidet zwischen einem generellen Dispens und »partiellen Inkonsequenzen gegenüber den eigenen theoretischen Einsichten« (109). Markus Wild (115–131) bedenkt, dass Philosophie nicht nur eine Entscheidung für Beruf und Expertentum ist, sondern »auch die Wahl einer Lebensführung, die darin besteht, sein Leben, Tun und Lassen durch theoretisch gewonnene Einsichten bestimmen zu lassen« (115). Ethiker und Ethikerinnen müssen sich daher – so Wild – von ihren ethischen Einsichten bestimmen lassen (vgl. 126). Andreas Cassee (132–144) geht der Frage nach, »ob sich Ethikerinnen und politische Philosophen in das politische Geschehen einmischen [sollen]« (132). Cassee verdeutlicht, dass philosophische und politische Arbeit durchaus vereinbar sind und plädiert für ein öffentliches Engagement von Ethikern und Ethikerinnen.
Die zweite Reihe von Beiträgen widmet sich der Frage nach »Ethik und Wissenschaft«:
Dagmar Borchers (161–176) sieht die Wissenschaftlichkeit der Ethik darin, die alltäglichen Gewissheiten zu hinterfragen und tief verwurzelte Intuitionen zu überprüfen. So bestehe die Herausforderung einer sich als Wissenschaft verstehenden Ethik genau darin, »zwischen ›privatem Gebrauch‹ und ›privater Meinung‹ auf der einen Seite und der wissenschaftlichen Reflexion auf der anderen Seite streng zu unterscheiden« (169). Weil ein gutes Argument ein gutes Argument bleibe, auch wenn der Urheber moralisch versage, können – so Borcher s– moralische Verfehlungen das, was in der Theorie ausgearbeitet und moralisch gefordert werde, nicht in Frage stellen (vgl. 171). So sei es nicht sinnvoll, die Plausibilität der theoretischen Ausführungen von der mo­ralischen Leistungsfähigkeit abhängig zu machen, vielmehr müsse man Willensschwäche, Charakterschwäche und motivationale Defizite auch Ethikern und Ethikerinnen zugestehen (vgl. 174). Christoph Ammann (177–194) versteht ethische Argumentationen als »Versuche, meinem Gegenüber eine bestimmte Anschauungsweise einer Situation nahezulegen« (183). Er beurteilt es als naiv anzunehmen, die unterschiedlichen Lebensläufe und Erfahrungshintergründe würden nicht auch unser moralisches »Sehen« be­stimmen (vgl. 186). Von hier aus verdeutlicht Ammann, dass die Meinung, dass Ethiker adäquatere ethische Urteile abzugeben in der Lage seien als Laien, falsch ist. Anton Leist (195–209) unterscheidet zwischen pragmatischen Ethikern, die sich auf das »praktisch Wirksame« und »Nützliche« (202) konzentrieren, und »wissenschaftlichen Ethikern«, die ihr Selbstverständnis aus einem distanzierten Verhältnis zum tatsächlichen Handeln, sowohl dem eigenen als auch dem ihrer Umwelt, gewinnen. Die Frage nach der privat gelebten Moral stelle sich nur für pragmatische Ethiker und Ethikerinnen, da hier die Persönlichkeit und daher auch das eigene Fühlen und Handeln nicht ausgeklammert werden könnten. Ausgehend von der Beobachtung, dass »professionelle Ethikerinnen und Ethiker so oft vergleichsweise bekümmert oder sogar unglücklich wirken« (214), überlegt Arnd Pollmann (210–228), was die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Ethik mit dem eigenen Leben macht. Peter Schneider (229–238) fragt mit dem Blick des Psychoanalytikers nach Pathologien des Moralischen, die er in der »Übertreibung des Moralischen« (232) sieht. Christine Abbt (239–254) führt eine solche Suche nach dem moralisch Guten vor, die – mit jeweils gewandeltem Blick – das Problem immer wieder neu und anders fasst: »Der ›gute‹ Ethiker bzw. die ›gute‹ Ethikerin ist bereit, sich diesem radikalen Denken und den daraus resultierenden Me­tamorphosen auszusetzen und die an sich selbst vollzogenen Wandlungen in die ethische Reflexion einzubeziehen.« (239)
Grundsätzlich Kritik an einer Ethik, die von Prinzipien her be­urteile, wie moralisch zu handeln sei, nicht aber an dem interessiert ist, was Menschen suchen und erleiden, übt Johannes Fischer (255–269). Stelle man hingegen die praktischen Gründe, die die Situationen liefern, ins Zentrum der Ethik, dann bekommen auch die Emotionen eine Bedeutung, »da sich nur über sie die moralische Signifikanz von Situationen und Lebenslagen erschließt, aus der das moralische Entscheiden und Handeln seine praktischen Gründe bezieht« (263).
Inwiefern Ethikerinnen und Ethiker spezifischen Einschränkungen der Re-defreiheit unterliegen, d. h. nach einer »Verpflichtung für Ethiker, gewisse Fragen und Äußerungen zu unterlassen« (271), fragt Anna Goppel (270–286). Véronique Zanetti (287–301) diskutiert, ob ethische Kompromisse grundsätzlich kompromittierend sind, und sucht nach Kriterien, moralische und moralisch fragwürdige Kompromisse zu unterscheiden. Julian Culp (302–312) stellt sich dem Theorie-Praxis-Problem in Bezug auf Theorien der Gerechtigkeit, um zu verdeutlichen, dass »angewandte Moralphilosophie […] wohl besser nicht als Anwendung kontextunabhängiger moralischer Prinzipien auf einen be­stimmten Handlungsbereich zu begreifen ist«, sondern »die Eigenart des An­wendungsbereichs moralischer Prinzipien bereits bei deren Rechtfertigung« (302) mitberücksichtigt werden muss. Nikola Biller-Andorno (312–322) fragt nach dem »moralischen Impetus, der mit der Bioethik als Beruf einhergeht« (313), und ermittelt Ansprüche an den Bioethiker, die zwar nicht Lebensführung oder charakterliche Eigenschaften des Ethikers betreffen, wohl aber seine professionelle Arbeit (vgl. 320).
Die Aufsatzsammlung bietet durchweg ungemein anregende, schwungvoll geschriebene und thesenfreudige Essays, die eine Vielzahl von Perspektiven eröffnen. Die zunächst eng anmutende Frage, ob Ethiker moralisch sein müssen, erweist sich als Schlüssel für grundlegende Fragen, die das Phänomen der Moral und das Unternehmen Ethik betreffen. Im Zentrum steht dabei der Hiat von moralischer Urteilsbildung und moralischem Handeln. Kann dieser Hiat tatsächlich überbrückt werden, indem auf Willensschwäche, motivationale Defizite oder darauf, dass der moralische Blickwinkel nicht übertrieben werden darf, hingewiesen wird? Oder nötigt dieser Hiat, grundsätzlich darüber nachzudenken, ob die Ethik, wenn sie die scharfsinnige Konstruktion von Argumenten für moralische Urteile, mit denen ein Handeln positiv oder negativ beurteilt wird, zu ihrem Gegenstand hat, nicht prinzipiell die tatsächlichen Gründe vernachlässigt, die unser Handeln in konkreten Situationen leiten, und daher unser Handeln nicht zu orientieren vermag? Hingewiesen sei abschließend auf die hervorragende Einleitung der Herausgeber (9–19), die nicht nur die Fragestellung in ihrer Brisanz markiert und Problemfelder konturiert, sondern auch erste Linien zwischen den einzelnen Beiträgen zieht. Eine Bereicherung in jeder Hinsicht!