Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1136–1138

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Rager, Günter, u. Michael von Brück

Titel/Untertitel:

Grundzüge einer mo­dernen Anthropologie.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. 352 S. m. 7 Abb. = Religion, Theologie und Naturwissenschaft, 27. Geb. EUR 39,99. ISBN 978-3-525-57024-1.

Rezensent:

André Ritter

Als Anthropologie (von ἄ́νθρωπος Mensch und λόγος Lehre; also die Lehre bzw. Wissenschaft vom Menschen) wird im deutschen Sprachraum und in vielen europäischen Ländern in erster Linie die naturwissenschaftliche bzw. auch die physische Anthropologie be­zeichnet. So wird der Mensch beispielsweise im Anschluss an den englischen Naturforscher Charles Darwin und die Evolutionstheorie als ein biologisches Wesen betrachtet.
Doch der rein naturwissenschaftlichen Betrachtung des Menschen stehen verschiedene andere Ansätze gegenüber wie z. B. die philosophische und die theologische Anthropologie. Danach un­terscheidet sich der Mensch von anderen Organismen qualitativ durch seine Personalität, das heißt, durch die relative Entscheidungsfreiheit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmung in der Korrespondenz von Freiheit und Verantwortung.
Was bzw. wer also ist der Mensch? Das eine und/oder das andere? Dieser Frage sucht das vorliegende Buch auf den Grund zu gehen – ursprünglich im Rahmen der Templeton Research Lec­tures an der Frankfurter Goethe-Universität von Günter Rager (Fribourg) und Michael von Brück (München) als ein differenzierender Dialog aus natur- und geisteswissenschaftlicher Perspektive einerseits sowie kultur- und religionswissenschaftlicher Perspektive andererseits vorgetragen.
Laut Verlagsankündigung geht es in der vorliegenden Publikation explizit um das folgende Arbeitsprogramm: »Von Beginn menschlicher Reflexion war die Frage, was der Mensch seinem We­sen nach sei und welche Stellung er im Kosmos einnehme, von zentraler Bedeutung, denn schließlich wird in ihr das Selbstverständnis des Menschen thematisiert. Dabei wird die Komplexität der Fragestellung deutlich, da auch nur der Versuch, diese zu beantworten, zahlreiche andere Erkenntnisse und Erfahrungsgebiete voraussetzt und somit auch immer von kulturellen Komponenten abhängt […] Möchte man diese Vielfalt nicht unverbunden nebeneinander stehen lassen, können diese Bestimmungen im Licht der unumgänglich von allen Menschen zu leistenden Welt- und Lebensorientierung nur in einer philosophischen Analyse vernünftig aufeinander bezogen werden, wodurch mögliche Horizonte und Grenzen des anthropologischen Unternehmens deutlich werden.«
Bereits das Inhaltsverzeichnis dieses 352 Seiten umfassenden Werkes macht der interessierten Leserschaft deutlich, dass ein breites Themenspektrum zur Bearbeitung ansteht: Im Teil I geht es Rager um naturwissenschaftlich-philosophische Fragestellungen, die das Bewusstsein, das Ich und die Person des Menschen ebenso betreffen wie das Verhältnis von Wissen und Wahrheit, die Stellung des Menschen in der Natur ebenso wie die Freiheit der Person sowie ihre Verantwortung und Liebe und schließlich auch das Sterben und den Tod. Besteht die Herausforderung doch grundsätzlich darin, sich nicht nur mit philosophischer Reflexion zu begnügen, sondern sich vor allem mit den naturwissenschaftlichen Befunden kritisch auseinanderzusetzen. Daran anschließend geht es von Brück im Teil II um die entsprechende religionswissenschaftliche-interkulturelle Erkundung des Themas wiederum mit analogem Aufriss, wobei die Einzelaspekte der bereits genannten Problemstellung nun insbesondere aus hinduistischer und buddhistischer Perspektive erörtert werden. Mit anderen Worten: Unser Nachdenken darüber, was bzw. wer der Mensch sei, ist eine kulturgeschichtliche und zugleich eine individualgeschichtliche »Kreisbewegung der Entfaltung von Po­tentialen des Erkennens, die vermutlich endlos ist« (157), weshalb einerseits eine historische, andererseits eine interdisziplinäre Perspektive einzunehmen ist. – Mit Blick auf die Frage nach menschlicher Freiheit seien an dieser Stelle wenigstens zwei aus der Fülle weiterer Beispiele konkret benannt:
1) Die gegenwärtige Debatte über pädophile Kriminelle scheint für reduktionistische Naturphilosophen darauf hinzudeuten, dass mit dem dahinter zum Ausdruck kommenden Determinismus kein Handlungsspielraum mehr für Freiheit und Verantwortung bestehen kann. Rager jedoch versucht einen solchen Standpunkt wissenschaftlich zu widerlegen, indem er zu Recht darauf hinweist, dass funktionelles menschliches Nervensystem und phänomenales Bewusstsein keineswegs identisch sind und folglich das phänomenale Bewusstsein nicht auf das funktionelle Nervensys­tem reduziert werden kann (vgl. 109–114). Mit anderen Worten: Handlungsfreiheit (Agenskausalität) und Willensfreiheit (Intentionalität) behalten weiterhin ihr Recht – und dies nicht zuletzt auch deshalb, weil willentliche Freiheit und naturgesetzliche Be­stimmung jeweils unterschiedlichen Erkenntnisebenen angehören (119).
2) Auch aus der Perspektive der hinduistischen und buddhistischen Philosophien ist die Debatte um anthropologische Deutungen neurowissenschaftlicher Thesen von großer Bedeutung und lässt die Freiheit der Person nochmals in neuem Licht erscheinen. So weist von Brück darauf hin, dass sich zum Beispiel in der indischen Tradition das Thema der Willensfreiheit ausführlich und vielschichtig erörtert findet (vgl. 271 f.). Allein das, was in unterschiedlichen kulturellen und religiösen Kontexten als unser »Karma« respektive »Schicksal« verstanden wird, macht in religionswissenschaftlicher Hinsicht darauf aufmerksam, dass das Problem der Spannung zwischen dem, was Gott dem Menschen vermeintlich als Schicksal zuteilt, und dem jeweils eigenen verantwortlichen Handeln des Menschen keineswegs einfältig bzw. einseitig aufgelöst werden kann. Darauf weist beispielsweise das besondere Verständnis von »Moksha« im Sinne der »Befreiung« als »Erfahrung der Gegenwart des Einen oder der Einen Gegenwart« in der Unterscheidung von Erkenntnisebene und Seinsebene hin. »Die Wirklichkeit erscheint in ihrer totalen Interrelationalität als Ausdruck des Einen. Mit diesem Einen identifiziert zu sein, ist Freiheit.« (277)
Was lässt sich von daher nun als vorläufiges Fazit einer modernen (interdisziplinären wie interkulturellen) Anthropologie festhalten? In beiden Fällen geht es ausdrücklich darum, den allfälligen Diskurs etwa über menschliche Freiheit und Verantwortung grundsätzlich dialogisch und damit zugleich multidimensional wie multiperspektivisch zu verstehen. Und wenn wir derart ver­fahren und die in der Wissenschaftsgeschichte voneinander getrennten naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Perspektiven systematisch zusammenführen, dann stellt sich hier und heute einmal mehr heraus, dass das Besondere des Menschen die Kultur ist. Gleichsam auf den Punkt gebracht: »Alles, was dem Menschen widerfährt, wird dabei umgestaltet, so dass der Mensch im kulturellen Handeln in gewisser Weise immer sich selbst begegnet. Religion ist der umgreifende Rahmen von Kultur. Hier fragt der Mensch nach einem letztgültigen Zusammenhang aller Erfahrungen. Solche Rahmen setzen Normen für das Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Erinnern und Handeln, für die Erfahrung also.« (157)
In diesem Sinne liegt also ein wirklich ergreifendes Buch vor, das sich nicht allein den Frankfurter Templeton Research Lectures 2009 verdankt, sondern nun auch einer darüber hinausgehenden Leserschaft zugeeignet wird.