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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1134–1136

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lafont, Ghislain

Titel/Untertitel:

Que nous est-il permis d’espérer?

Verlag:

Paris: Les Éditions du Cerf 2009. 327 S. = La nuit surveillée. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-2-204-08989-0.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

»Au total, ce maintenant est assez désespéré […]« (11). Es ist das Bewusstsein einer tiefgreifenden Zivilisationskrise, dem sich das hier anzuzeigende Buch des Benediktiners und emeritierten Professors an der Gregoriana verdankt. Das Buch ist die Frucht eines langen Lebens als Gelehrter und Mönch, und dem entspricht es, dass Ghislain Lafont zur Analyse und Bearbeitung der Krise einen umfassenden Ansatz wählt, der bis zu aktuellen Entwicklungen in Kosmologie und Neurowissenschaften, ja bis zum Ausbruch der globalen Finanzkrise 2008 (vgl. 137) reicht. Die primäre Perspektive ist gleichwohl eine historische (vgl. 310): Das gegenwärtige Gefühl des »rien ne va plus« (10) wird auf verfehlte Weichenstellungen des menschlichen Geistes zurückgeführt, die bis in die von Jaspers apostrophierte Achsenzeit (308) reichen. Denn seitdem steht das menschliche Denken und Handeln unter dem Vorzeichen des einen Wahren, mit den Konnotationen der intellektuellen Überheblichkeit (»la primauté reconnue au savoir«, 316), der technischen Machbarkeit (Vico: »Ens et factum convertuntur«, zit. 113, Anm. 1) und des Primats der Separation vor dem Gemeinschaftlich-Relationalen (»la perspective demeure individuelle«, 228). Vor allem Platon wird von L. als einflussreicher Vertreter dieses »henologischen« Zugangs zur Wirklichkeit namhaft gemacht; in der Neuzeit sind Descartes und Spinoza seine wirkungsmächtigsten Nachfolger. Gegenbewegungen – die »ontologische« Perspektive des Aristoteles mit ihrem anti-monistischen und wirklichkeitszugewandten Zug, das affekt- und hoffnungszentrierte Urchristentum – wurden in das herrschende Paradigma integriert und so domestiziert. Aber: »Il faut avoir le courage de l’accepter pour la destinée complète du genre humain: on ne peut pas rendre compte de ce qui est réellement en question, si on demeure dans le poêle de Descartes ou l’atelier de Spinoza« (222).
L.s Lösungsvorschlag besteht nicht in einem radikalen Paradigmenwechsel, sondern in einer Reintegration: in einer »anthropologie alternative« (186), einem »humanisme réel« (37), in dem die richtigen Elemente der beschriebenen Mentalität im Hegelschen Sinn aufgehoben sind auf einer höheren Stufe, die zugleich einen Rück-gang zum von intellektuell-technischen Bemächtigungen befreiten Eigentlich-Primitiven, zur »enfance retrouvée« (31), darstellt. L. spricht von einer Wiedereinführung des Symbolischen, wobei es ihm vor allem um das Denken von Relationen her geht: »L’hy-pothèse, partagée par beaucoup et que je fais mienne, serait quel’époque présente nous invite à réintroduire le symbolique, c’est-à-dire le primat du lien dans la structure et la vie du réel, dans le désir et le savoir de l’homme« (15; Hervorhebungen im Original). In diesem Kontext kommen dann auch Kategorien (neu) zur Geltung wie »événement« (232), »parole« (ebd.), »bonheur« (241), »récit« (275), »pluralité« (279), »amour« (300) und vor allem »don« (»Enfin, sur la base généreuse du don et de la parole, il est possible d’aller de l’avant«, 235) und »communion« (»l’homme est un désir, interrompu par une parole, en vue d’une communion«, 314 – Hervorhebung im Original). Das bedeutet zugleich eine Neueinschätzung des christlichen Glaubens, stehen bei diesem doch – seine neuplatonische Überformung beiseite gestellt, vgl. etwa L.s Kritik an der Vorstellung Gottes als Causa sui (192 f.297) – gerade diese Kategorien im Zentrum: in der Erzählung des Christusgeschehens und seiner rituellen Vergegenwärtigung in der Feier der Eucharistie (vgl. 280) sowie der Hoffnungsperspektive auf eine von Gott als Gabe eröffnete Gemeinschaft mit Gott und allen Menschen (vgl. 323). Es handelt sich nicht um eine »henologische« oder »ontologische«, sondern um eine »proslogische« Perspektive auf die Wirklichkeit, im relationalen Sinne des griechischen pros ti (vgl. 58). Wie gesagt, es soll diese neue und zugleich ursprüngliche Perspektive keine ausschließende Alternative zu den herkömmlichen achsenzeitlichen Deutungsmustern sein, sondern ihre Aufhebung im besten Sinne des Wortes: »Événement, récit et foi sont la constellation primitive, dans laquelle s’inscrivent ultérieurement les démarches posées sous le signe du vrai, à connaître et à faire« (315).
Wie aus einem der obigen Zitate bereits ersichtlich, beansprucht L. für seine Analyse bzw. seinen Lösungsvorschlag keine Originalität. Das wäre innerhalb seines Ansatzes bei einer ursprünglichen und allgemein intuitiv geteilten »koinê morale« (179) ja auch ebenso selbstwidersprüchlich wie der Versuch, seine Perspektive »henologisch«-ausschließend als konträr zu alternativen Wirklichkeitsdeutungen zu etablieren. Trotz des Jahrtausende überspannenden Inhalts kommt L.s Buch im Ton bescheiden und gerade so kohärent daher, gemäß der eigenen Devise: »le christianisme se propose et ne s’impose pas« (280). Umstürzende religionsphilosophische Neuigkeiten enthält das Buch nicht, aber es höhlt auf seine Weise den Stein und belegt die gegenwärtige Attraktivität eines Denkens, das sich gegen zivilisatorische Absolutheitsansprüche und für einen Primat der Relationalität des Menschen sowie sein Angewiesensein auf eine ursprüngliche, seine Existenz bestimmende Gabe ausspricht. Dass sich mit L. ein ausgewiesener Denker des Katholizis­mus in diesem Sinne positioniert, ist ein weiterer Beleg dafür, wie unangemessen es ist, wenn in der gegenwärtigen deutschsprachigen protestantischen Theologie gelegentlich »die« römisch-katholische Theologie mit einem kruden, statischen Substanzdenken gleichgesetzt wird.