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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1133–1134

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hartung, Gerald, u. Magnus Schlette[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religiosität und intellektuelle Redlichkeit.

Verlag:

Tübingen Mohr Siebeck 2012. VIII, 353 S. = Religion und Aufklärung, 21. Kart. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-151972-7.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Unzweifelhaft ist die Spannung zwischen religiösen Lebensorientierungen und der mit dem Beginn der Aufklärung stetig wachsenden Nötigung einer kritischen Prüfung dieser Orientierungen im Licht der Ergebnisse des modernen wissenschaftsspezifischen Ar­beitens mit dem Ziel, diesen religiösen Orientierungen Verbindlichkeit zu verleihen, ein zentraler Faktor der religiös-kulturellen Theoriebildung in der Neuzeit gewesen. Im Prozess dieser kontinuierlichen Prüfung der religiösen Lebensorientierungen ist die intellektuelle Redlichkeit zweifelsohne zu einem Leitideal der Moderne geworden. Mit dieser Thematik beschäftigte sich auch eine Tagung, die vom 12. bis 14. November 2009 an der Forschungs stätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg in Ko­operation mit der DFG-Kolleg-Forschergruppe »Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive« am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt und in Verbindung mit dem Wissenschaftlich-Theologischen Seminar der Universität Heidelberg stattfand. Der jetzt erschienene, 17 Beiträge umfassende Ta­gungsband, der von Gerald Hartung, der seit 2010 als Professor für Philosophie an der Universität Wuppertal tätig ist, und Magnus Schlette, der seit 2011 Leiter des Arbeitsbereichs ›Theologie und Naturwissenschaft‹ an der FEST in Heidelberg ist, als Herausgeber verantwortet wird, bietet aufschlussreiche Schlaglichter auf einschlägige Positionen zur konstruktiven »Verhältnisbestimmung von Religiosität und intellektueller Redlichkeit von der Aufklärung über die vormärzliche Theologie und Philosophie, die Jahrhundertwende und die klassische Moderne bis zur Gegenwart« (29). Deutlich wird in den Beiträgen herausgearbeitet, dass die intellektuelle Redlichkeit Maßgebliches zur Dynamisierung und Individualisierung der religiösen Identitätsbildung beigetragen hat und nach wie vor beiträgt.
Bekanntlich ist die spezifisch moderne Redlichkeit sowohl von der sokratischen als auch von der christlichen Tradition unterschieden. Zu den wirkungsmächtigsten Verfechtern dieser Unterscheidung in der Moderne zählt Immanuel Kant, mit dem sich Tilman Reitz in seiner Studie auseinandersetzt. Der Vf. zeigt, dass Kants Religionskonzeption ein Versuch ist, die »christliche Religion auf das moderne Prinzip intellektueller Redlichkeit abzustimmen« (33). Der Preis der Begrenzung der Vernunftreligion auf den Einzelnen ist allerdings »eine fast vollständige Blindheit für die sozialisierende Kraft, die Religion entfalten kann« (49). Für den Vf. steht hinter diesem Religionskonzept die Absicht einer sanften Säkularisierung der Religion: Sie soll so gründlich übersetzt werden, dass sie sich als unnötig erweist.
In seiner lesenswerten Studie untersucht Gerald Hartung die unterschiedlichen Positionen der innertheologischen Religionskritik im Vormärz. Alle untersuchten Theologen waren dabei der historisch-kritischen Methode verpflichtet. Anschaulich zeigt der Vf., wie die ursprünglich als »rettende Kritik« verstandene methodische Arbeit bei Bruno Bauer, dem »Enfant terrible der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts« (53), zum Mittel einer vernichtenden Kritik, ja zur Destruktion des Kritisierten wird. Eine andere Position findet sich bei David Friedrich Strauß, bei dem die Christologie zur Anthropologie wird. Redlichkeit bedeutet für Strauß auch, vor »dem Leser Rechenschaft über seine Überzeugungen abzulegen« (68). Für Strauß leitet sich daraus die Aufgabe intellektueller Redlichkeit ab: »Wie können wir eine Herkunft, Tradition, einen Glauben, eine Lebensgewissheit abstreifen?« (69)
Mit der intellektuellen Redlichkeit im Werk The Varieties of Religious Experience des amerikanischen Psychologen und Philosophen William James setzt sich Felicitas Krämer auseinander. Für James muss eine religiöse Erfahrung ihren Wert für das Leben beweisen, um glaubhaft zu sein. Vom Gehalt der religiösen Erfahrung baut sich bei James daher das religiöse Selbstverhältnis der Menschen auf. Dies setzt voraus, dass ein Mensch die »richtigen Gefühle« (89) hat. Redlichkeit bedeutet für James, dass der intellektuell redliche Gläubige »nach den Wirkungen seiner Religiosität auf seinem Lebenswelt« fragt und »seine Überzeugungen danach« beurteilt (94).
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit Max Weber. In seiner Studie untersucht Austin Harrington die Übereinstimmungen und zentralen Differenzen in den Glaubenskonzeptionen von Weber, Georg Simmel und Robert Musil. Entgegen der Überzeugung von Weber, der die Inkommensurabilität der Wertsphären von Wissenschaft und Religion betont, plädiert der Vf. im An­schluss an Simmel und Musil dafür, Wissenschaft, Mystik und Kunst nicht voneinander zu trennen, sondern gerade das Zusammenspiel dieser drei Bereiche für eine sinnvolle Gegenwartsanalyse zu nutzen. In seinem lesenswerten Beitrag zur Intellektuellenreligiosität analysiert Volkhard Krech das Verhältnis von Intellektualität zur Religion. Neben Simmel stehen vor allem Weber und sein Verständnis der Intellektuellenreligiosität im Mittelpunkt der Untersuchung. Der behandelten Religionsform steht der Vf. bewusst kritisch gegenüber, weil sie für ihn nicht mit dem modernen Ideal der intellektuellen Redlichkeit vereinbar ist.
Weitere ideengeschichtliche Beträge beschäftigen sich u. a. mit der Kontroverse zwischen Adolf von Harnack und Karl Barth (Markus Höfner), Rudolf Bultmanns Redlichkeitsverständnis bei der Kritik der Geister- und Wunderwelt des Neuen Testamens, d. h. bei der Entmythologisierung (Herrmann Deuser), oder dem Redlichkeitsverständnis von Karl Rahner (Andreas R. Batlogg). Philosophiesystematisch führt Rebekka A. Klein in die aktuellen religionsphilosophischen Diskussionen am Beispiel des amerikanischen Religionsphilosophen Alvin Plantinga ein.
Zwei informative Beiträge setzen sich kritisch mit der atheistischen, anthropologisch fundierten Religionskritik des Philosophen Ernst Tugendhat auseinander. In seiner These, »dass intellektuell redliche Menschen heute nicht mehr religiös sein dürfen« (203), kommt sein Verständnis von intellektueller Redlichkeit zum Ausdruck. Für Christian Thies ist das von Tugendhat vertretene theistische Gottesverständnis nicht mehr zeitgemäß. Seiner Überzeugung nach lässt sich »mystische und kosmische Religiosität sehr wohl mit intellektueller Redlichkeit verbinden« (224). Daher plädiert er – nicht weniger skeptisch gegenüber einem Gottesverständnis – für einen religiösen Atheismus. »Der religiöse Atheist lehnt die Gotteshypothese ab, hat aber mystische Erfahrungen gemacht und/oder staunt über die unbegreiflichen Wunder dieser Welt« (225). Heiko Schulz betont in seinem Beitrag, gegen Tugendhats These gerichtet, dass »einige Postulate Gottes intellektuell redlich« (245) sind, d. h. für ihn kann ein religiöser Mensch sehr wohl intellektuell redlich sein.
Die Bemerkungen mögen genügen, um die Fülle der verschiedenartigen Gesichtspunkte anzudeuten, die in dem Sammelband enthalten sind. Er gibt wertvolle Denkanstöße, die dazu beitragen werden, die Spannung zwischen Religiosität und intellektueller Redlichkeit besser zu verstehen. Den beiden Herausgebern ist ein kluges, informatives Buch gelungen.