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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1130–1132

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Elberfeld, Rolf

Titel/Untertitel:

Sprache und Sprachen. Eine philosophische Grundorientierung.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Karl Alber 2012 (2. Aufl. 2013). 415 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-495-48476-0.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

In diesem Grundlagenwerk fragt R. Elberfeld nach der Bedeutung der Vielfalt der Sprachen für die Philosophie – und richtet sich damit zugleich gegen Bemühungen um eine (wissenschaftliche) Einheitssprache. Die welterschließende Funktion der Sprache reflektiert er nicht im Sinn Noam Chomskys, der nach universalen Strukturen fragt, »durch die das Sprachvermögen der Menschen« (15) allgemein und unabhängig von den Einzelsprachen bestimmt ist. Aber er folgt auch nicht dem Sprachrelativismus eines Edward Sapir oder Benjamin Lee Whorf, die beide die radikale Verschiedenheit und Nichtkompatibilität der Sprachen betonen. Es geht E. nicht um den Gegensatz beider Betrachtungsweisen, sondern um deren Zusammenspiel, wie es gerade durch Wilhelm von Humboldt (48–63) und auch Friedrich Nietzsche (64–81) in den Blick kommt. Da zudem auf dem 22. Weltkongress für Philosophie in Seoul (2008) deutlich wurde, dass in Asien, Afrika oder Südamerika sich zeitgenössische philosophische Diskurse entwickeln, die – wie in China – ebenso auf alte Denktraditionen zurückgreifen, wie es in Europa der Fall ist, lässt sich die Philosophie der Gegenwart nicht mehr auf europäisch-nordatlantische Diskurse beschränken. Damit ist die Vielfalt der Sprachen in ihrer Bedeutung »für das Philosophieren in einer globalen Welt zu reflektieren« (17).
Nach einer Orientierung über die Sprachfamilien (87–126), der Zurückweisung der europazentrierten lateinischen Grammatik als Deutungsbasis für alle Sprachen und der stattdessen vorgenommenen Differenzierung in flektierende, isolierende, agglutinierende und polysynthetische Sprachen beschreibt E. den grammatischen Bau der von ihm ausgewählten zu untersuchenden Sprachen, wobei er sich in der indoeuropäischen Sprachfamilie für Sanskrit, Altgriechisch, Latein und Deutsch entscheidet und außereuropäisch für Chinesisch und Japanisch (127–181). Die Wahl der benannten Sprachen begründet sich aus der umfangreichen philosophischen Literatur in ihrem Bereich. So lässt sich zeigen, wie die einzelnen Sprachen bestimmte Denkformen nahegelegt und welche Rolle sie bei der Begegnung mit anderen Kulturen gespielt haben. Damit hat E. das Material für sein Hauptkapitel, die philosophische Sprachbetrachtung zwischen Europa und Asien, ausgebreitet (182–384). Er erörtert den Zusammenhang von Sprache und Denken an sieben für das philosophische Denken relevanten Themenfeldern:
1. Während deutsche Sätze gewöhnlich ein Subjekt enthalten, ist dies im Altchinesisch und -japanisch keineswegs der Fall. Gerade bei der philosophischen Beschreibung von Geschehens- und Bewegungsformen verstellt der Blick auf das Subjekt oftmals die anvisierten Sachverhalte, da sie subjektlos in ihrer Bedeutsamkeit besser erschlossen werden können.
2. Das Deutsche kennt nur den Gegensatz von Aktiv und Passiv, während etwa das Altgriechische und -japanische zusätzlich über das Medium verfügen. Damit lassen sich Geschehensformen angemessen ausdrücken, die weder subjekt- noch objektzentriert sind. So »können Gedanken, die z. B. sinnliche und leibliche Vollzüge zu deuten versuchen, wesentlich präziser gefasst werden« (258). Dies ist in Übersetzungen alter chinesischer oder japanischer Texte ins Deutsche oder Englische nicht ausreichend berücksichtigt worden.
3. Die Betrachtung der unterschiedlichen Grammatikalisierung der Zeit in verschiedenen Sprachen zeigt, dass andere Sprachen solche Differenzierungsformen enthalten können, die in der eigenen Sprache nicht vorhanden sind, und so »die gedankliche Durchdringung des Phänomens der Zeit« ( 276) bereichern.
4. Das Wortfeld Kultur reicht im Deutschen »in fast alle Bedeutungsfelder der Sprache hinein« (303), die Prozesse der Pflege und objektive Ausdrucksformen verschiedener Kulturen, von Alltagskultur bis Zellkultur, bezeichnen. Doch im ostasiatischen Raum ist die Wurzel qi/ki noch weit stärker in wissenschaftlichen oder anthropologischen Bezügen verbreitet – allein für das Japanische listet E. rund 160 solcher Bezüge auf –, so dass der Versuch, sie mit nur einem Wort zu übersetzen, den kulturellen und philo­sophischen Bezugshorizont des Zeichens zum Verschwinden brächte.
5. Ohne Übersetzungsprozesse wäre die europäische Philosophie- und Religionsgeschichte gar nicht möglich geworden, wie auch für China die Rezeption des aus Indien stammenden Bud­dhismus – auf der Basis des Daoismus und Konfuzianismus – wichtig war. E. zeigt exemplarisch, dass Übersetzungen einmal zugleich auch eine Kultur übersetzen und dass sie andererseits durch ein be­s­timmtes Interesse des jeweiligen Übersetzers geprägt sind. Folglich gibt es nicht die eindeutig richtige Übersetzung, »da es auch den einen Sinn eines Satzes, den es eins zu eins zu übersetzen gilt, nicht geben kann« (336), muss doch die Verschiedenheit der jeweiligen Sprache in die der Übersetzung vorhergehenden Interpretation und Reflexion genau einbezogen werden. So zeigt die Übersetzung, »wie sich Philosophieren zwischen verschiedenen Sprachen entfaltet« (379). Diese Würdigung der Übersetzung als einer eigenen philosophischen Leistung wird jedoch zumeist nicht gegeben.
6. Die Sprachpragmatik ist in der europäischen Philosophie erst im 20. Jh. untersucht worden, erweitert sich aber durch ostasiatische Denktraditionen signifikant, wobei E. ausdrücklich festhält, dass sich hier die Forschung erst am Anfang befindet.
7. Die Besonderheit der ostasiatischen Philosophie zeigt E. an ihrem Bezug zur Schreibkunst: »Mit der Verbindung von Philosophieren und Schreibkunst bei Nishida ist in performativer Weise eine Durchdringung von Bewusstseinstätigkeit und leiblicher Bewegung angezeigt, die den Dualismus des Descartes nicht nur in theoretischer Hinsicht, sondern auch in philosophisch-künstle­rischer Weise überwindet« (375).
Abschließend fasst E. seine Einbeziehung der Vielfalt der Sprachen in das philosophische Denken auf dem Boden einer transformativen Phänomenologie zusammen (377–384). Sie »geht in radikaler Weise von der Unabschließbarkeit der Arbeit an den Phänomenen aus« (382), da die Phänomene immer wieder durch die Analyse in einer bestimmten Sprache hervorgebracht werden und sich so fortlaufend neue Perspektiven zeigen.
Mit dieser Untersuchung, deren weiter Rahmen hier nur angedeutet werden konnte, hat E. nicht nur für die Philosophie, sondern gerade auch für die Theologie wichtige Hinweise gegeben, die sich an der sogenannten Sprachenfrage im Theologiestudium, aber auch an den Bibelübersetzungen sowie an der Predigttätigkeit konkretisieren lassen und deren Konsequenz in der Wichtigkeit der Sprachenkenntnisse liegt, ohne die adäquate und zeitgemäße Umsetzungen biblischer Sachverhalte nicht möglich sind, da auch sie unabschließbare Prozesse sind.