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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1127–1128

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Drecoll, Volker H., Baur, Juliane, u. Wolfgang Schöllkopf [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Stiftsköpfe.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XI, 400 S. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-16-152231-4.

Rezensent:

Uwe Jens Wandel

»Stiftsköpfe«? Der Kenner weiß: Es gab schon einmal ein Buch mit diesem Titel, verfasst von Ernst Müller, dem späteren Mitherausgeber des »Schwäbischen Tagblatts« in Tübingen und Ehrendoktor der Evangelisch-theologischen Fakultät daselbst, und erschienen im Jahre des Unheils 1938. Daraus machen die Herausgeber kein Geheimnis. Zum anderen gestehen sie ein, dass die Auswahl der 51 Köpfe mehr oder weniger subjektiv war. Das kann ihnen niemand zum Vorwurf machen, denn es ist ein unlösbares Problem, aus den unzähligen Absolventen dieser berühmten Bildungsstätte die berühmtesten, bedeutendsten oder auch merkwürdigsten zu aller Zufriedenheit herauszusuchen – es werden stets Namen vermisst werden, wie z. B. die berühmten Johann Valentin Andreae und Wilhelm Schickard oder heute nur noch Experten bekannte wie Emanuel Christoph Klüpfel, Vizepräsident des Oberkonsistoriums zu Gotha und Mitbegründer des »Gotha«, oder der Vorkämpfer der Friedensbewegung Otto Umfrid und viele andere mehr.
Erfreulich ist, dass die 46 Autoren durchweg nüchtern ans Werk gegangen sind, jedem sein Recht zuteilwerden lassen, aber, wo es angebracht ist, sich durchaus kritisch äußern, so etwa über Sixt Karl von Kapff, der den »schwäbischen Pietismus mit der politischen Reaktion verband« (222 – Vergleiche mit der Gegenwart liegen nahe). Die Benutzung des Stiftsarchivs dürfte nicht unbedingt eine Besonderheit (VII), sondern eher eine Selbstverständlichkeit sein, wenn ein wissenschaftlicher Anspruch erhoben wird. Der Schwerpunkt liegt auf dem »langen« 19. Jh., circa 34 Stiftsköpfe kann man nach ihrer Wirkungszeit von der Französischen Revolution bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs dazu rechnen.
Natürlich gibt es Stiftler, die einfach dabei sein müssen, etwa Jo­hannes Kepler, der für das »lutherische Spanien« (Württemberg) allerdings zu unorthodox war, und sein Lehrer Michael Mästlin, die für Württembergs Pietismus wichtigen Bengel und Oetinger, das Dreigestirn Hegel, Hölderlin und Schelling (über ihre Haltung zur Französischen Revolution sollten die Leser außer einer alten Anekdote über Schelling mehr erfahren können, es gibt dazu von den Verfassern nicht benutzte neuere Literatur) nebst ihrem Ephorus Chris­tian Friedrich Schnurrer, die radikalen Ferdinand Christian Baur und David Friedrich Strauß. Da es hieß: »Ein Stiftler kann alles«, gingen aus dem Stift ein Universalgelehrter und Aufklärer wie Georg Bernhard Bilfinger, der französische Diplomat (und Goethe-Freund) Karl Friedrich Reinhard, der Innenminister Christoph Friedrich Schmidlin, der Psychologe Immanuel David Mauchart, der Zoologe (und Verfasser des »Rulaman«) David Friedrich Weinland, der Erdmagnetiker und Südpolar-Forschungsreisende Friedrich Bildlingmaier hervor. Hier hätte u. a. Albert Günther, Direktor der zoolo­gischen Abteilung des British Museum, angereiht werden können.
Am fesselndsten sind wie stets die Unangepassten, die wider den Stachel löckten (wie dies auch Hölderlin, Reinhard, Schmidlin und viele mehr taten), nicht die unzähligen braven, unauffälligen Pfarrer und Lehrer, die aus dem Stift hervorgingen: Nikodemus Frischlin, Dichter und Spötter, das jung(gestorben)e Genie Wilhelm Hauff, das Enfant terrible Wilhelm Waiblinger, der linke Wilhelm Zimmermann, genannt Bauernkriegs-Zimmermann, der eigenwil­lige Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, der rebel­-lische Hermann Kurz, Georg Herwegh, Dichter und Revolutionär, der vollendete Lyriker, aber schwache Prediger Mörike. Es sind da­bei Leute mit Ecken und Kanten wie Christian Adam Dann, Vorkämpfer des Tierschutzes (heute kein Thema bei der Geistlichkeit?), oder der kompromisslose Christoph Schrempf, der dem Oberkirchenrat ge­genüber kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte. Für die NS-Zeit werden die (wenigen) Kämpfer in der Landeskirche gegen das Regime behandelt: Otto Riethmüller, Paul Schempp, Ju­lius von Jan, Hermann Diem – nicht aber Unterstützer der Machthaber. Immerhin wird nicht verschwiegen, dass die Haltung der Kirchenleitung, insbesondere des Kirchenpräsidenten Wurm, alles an­dere als überzeugend war (»Ich bestreite mit keinem Wort dem Staat das Recht, das Judentum als gefährliches Element zu bekämpfen«, 1938).
Bei der Schlussredaktion hätten verschiedene Druckfehler und sachliche Ungenauigkeiten vermieden, verunglückte lateinische Zitate und erklärungsbedürftige Begriffe berichtigt oder ergänzt werden können. Nur drei Beispiele: »artistisches Magistrat« (3); »Poetus Laureatus« (21 – ein Poeta laureatus ist übrigens kein Hofdichter); ob in Tübingen jeder weiß, was die »anatolische Schule« war? (24.197 – die Autoren hoffentlich schon). – Eine Corrigendaliste steht gern zu Gebote. – Ein Nachweis der (nicht brillant wiedergegebenen) Bilder fehlt. Zu wünschen wären vielleicht eine Liste weiterer bedeutender Stiftsköpfe gewesen und etwa auch Hinweise auf allgemeine Literatur zur Ge­schichte des Stifts für diejenigen, die gern weiterlesen möchten, angeregt, eben, durch die »Stiftsköpfe«.