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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1124–1127

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Martin, Karl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bonhoeffer in Finkenwalde. Briefe, Predigten, Texte aus dem Kirchenkampf gegen das NS-Regime 1935–1942. Studienausgabe mit Hintergrunddokumenten und Erläuterungen. Hrsg. unter Mitarbeit v. L.-M. Rathke.

Verlag:

Wiesbaden u. a.: Fenestra-Verlag 2012. 987 S. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-9813498-8-7.

Rezensent:

Gisela Kittel

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Bonhoeffer, Dietrich: Die Finkenwalder Rundbriefe. Briefe und Texte von Dietrich Bonhoeffer und seinen Predigerseminaristen 1935–1946. Hrsg. v. E. Bethge, I. Tödt, O. Berendts. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2013. 709 S. = Dietrich Bonhoeffer-Werke, Erg.bd. Geb. EUR 78,00. ISBN 978-3-579-01903-1.


Gleich zweimal ist in den vergangenen Monaten eine gewichtige Dokumentensammlung im Druck erschienen: die Rundbriefe aus dem Predigerseminar Bonhoeffers in Finkenwalde mit den ihnen beigelegten Meditationen, Predigten und anderen Schriftstücken. Das eine Buch wurde verlegt im Fenestra-Verlag, das andere als Ergänzungsband in der Reihe der Dietrich Bonhoeffer-Werke in Gütersloh.
Bonhoeffers Briefe und seine Schriften aus dem Kirchenkampf, seiner Gefängniszeit und den Jahren vor 1933 sind längst gesammelt, gedruckt, gelesen und in die Bonhoefferforschung eingegangen. Doch in den oben genannten Büchern kommen nun auch ausführlich die Kandidaten zu Wort, die unter Bonhoeffers Leitung ihr halbjähriges Predigerseminar absolvierten. Und wir erleben mit, wie es in dem Predigerseminar zuging, wie der Tagesablauf gestaltet war, was in Vorlesungen und Übungen gelehrt wurde und wie vor allem das Wort der Schrift das Leben in Finkenwalde bestimmte – in Andacht, Meditation und Gebet im Kreis der Brüder, aber auch in der Stille des eigenen Zimmers. Und es wurde viel musiziert und gesungen! Nein, in Finkenwalde gab es nicht nur den Einen, den Direktor, und das, was er in die Gemeinschaft einbrachte. Die Rundbriefe, die einmal im Monat die Schülerschar erreichten, in denen Nachrichten weitergegeben und mit deren beige­fügten Meditationen und Predigten die in alle Richtungen Zerstreuten gestärkt und ermutigt wurden, sind zum großen Teil nicht von Bonhoeffer geschrieben. Namen wie Schönherr, Maechler, On­nasch, Karl Ferdinand Müller, Thurmann, Lekszas, Kanitz und natürlich Eberhard Bethge tauchen immer wieder auf. Bonhoeffer wollte eine Bruderschaft formen, die in geistlicher Gemeinschaft beieinander blieb, auch wenn sie räumlich voneinander weit entfernt leben musste. Dem dienten neben den Rundbriefen die Listen der Meditationstexte, die von allen Briefempfängern, wo auch im­mer sie waren, eine Woche lang meditiert wurden, wie die gemeinsamen Freizeiten, zu denen Bonhoeffer die Teilnehmer früherer Kurse – jede Gruppe für sich – regelmäßig einlud. Vor allem aber diente die Einrichtung des »Bruderhauses« diesem Ziel, in dem Seminaristen früherer Kurse zur Mithilfe bei der Begleitung der jeweils neuen Kursteilnehmer bereitstanden, aus dem heraus sie aber auch zu Vertretungsdiensten in Pommern und anderswo je­der­zeit abberufen werden konnten. Bonhoeffer musste nicht im­mer selbst anwesend sein. Er konnte seine Aufgaben in der Ökumene und in den Ausschüssen der Bekennenden Kirche wahrnehmen, ohne dass die Arbeit in Finkenwalde darunter litt. Selbst bei der von dem Seminaristen Gerhard Ebeling vorbereiteten zweitägigen Disputation über die Frage der Gesetzespredigt war Bonhoeffer nach seiner eigenen Aussage (im Jahresbericht 1936) nicht persönlich anwesend, obwohl er natürlich die Thesen kannte und seine Anfragen beigesteuert hatte. Und man besuchte sich! Die Brüder in der Ferne wurden angehalten, miteinander Kontakt zu halten. Und natürlich standen die Türen in Finkenwalde jederzeit offen für Gäste und alle Brüder, die auf der Durchreise waren oder sich für ein paar Tage erholen wollten.
Beide oben genannten Bücher sind in dem Teil, der die Finkenwalder Rundbriefe mit ihren Anlagen dokumentiert, nahezu identisch. Auch die »Persönlichen Rundbriefe«, die Bonhoeffer allein in der Zeit der Sammelvikariate (1937–1939) und in den ersten Kriegsjahren (bis in den Advent 1942) geschrieben hat, kann man in beiden Werken in gleicher Weise lesen. Die Differenzen sind eher in der jeweiligen Zielsetzung zu erkennen.
Das von Ilse Tödt herausgegebene Buch, »Die Finkenwalder Rundbriefe«, zeichnet sich durch wissenschaftliche Strenge aus. Publiziert werden nur Dokumente, die von Bonhoeffer selbst und seinen Predigerseminaristen stammen. Anmerkungen sind sparsam gesetzt und berühren nur Fundorte und Überlieferungsfragen der wiedergegebenen Texte. Auf Kommentierungen wird bewusst verzichtet. Die Vorbemerkungen sind knapp. Doch enthält dieser Band zwei zusätzliche Texte, die für die Leser interessant sein dürften. Der eine ist eine Kladde, herumgereicht unter den Sammelvikariatsteilnehmern vom Sommerkurs 1939 in Sigurdshof, in der die sechs jungen Theologen und nunmehr Soldaten von November 1941 bis Herbst 1946 einander mitteilen, wie es ihnen jeweils ergeht oder ergangen ist. Leider ist der erste Teil der Kladde mit den Nachrichten aus dem Zeitraum davor verschollen. Und leider, leider hat Hinrich Korporal das ihm im Oktober 1946 zugesandte Heft bei sich liegen lassen, bis es ihm 1990 wieder vor die Augen kam und er es doch noch an Eberhard Bethge schickte! Der andere Text, der eine Ergänzung und Bereicherung der Finkenwalder Rundbriefe be­deutet, sind die Lebenserinnerungen von Otto Berendts, von diesem im Jahr 1998 verfasst und von der Herausgeberin auf die Finkenwalder Zeit hin zusammengestellt. Hier kommt ein Zeitzeuge zu Wort, der selber an einem Finkenwalder Kurs (dem Winterkurs 1936/37) teilnahm und der nun – bei aller Dankbarkeit für das Erlebte und Erlernte – doch auch mit einer gewissen Distanz zu­rückblickt. Wie es in Finkenwalde zuging, die Neulinge empfangen wurden, wie man sich in den strengen geistlichen Tagesablauf hineinfand, wie eine Volksmissionsfahrt in Hinterpommern aussah und wie das Verhältnis zur separaten Gruppe des Bruderhauses von dem Berichterstatter empfunden wurde, das alles wird von Otto Berendts trotz des zeitlichen Abstandes sehr lebendig geschildert.
Der Band »Bonhoeffer in Finkenwalde«, von Karl Martin herausgegeben, will ein Studienbuch sein. Es geht nicht nur um die Finkenwalder Briefe. Es geht zugleich um eine Einführung in den Kirchenkampf, die Situation der Kirche im NS-Staat, das Ringen der Bekennenden Kirche, bei dem einmal eingeschlagenen Weg zu bleiben. Daher schließt sich an die beiden Kapitel der Rundbriefe ein ausführlicher Teil mit ausgewählten »Hintergrunddokumenten« an. In diesem Kapitel werden nicht nur die großen Erklärungen und Beschlüsse der Reichsbekenntnissynoden von Barmen und Dahlem wiedergegeben, auch andere wichtige Texte, die den Weg der Bekennenden Kirche beleuchten, sind zu finden. Wie sich die Bekennende Kirche organisiert hat, woher die nötigen finanziellen Mittel kamen, was den jungen Theologen abverlangt wurde, die sich ohne Aussicht auf eine Pfarrstelle illegal ausbilden und prüfen ließen, das alles spiegeln diese Dokumente wider. Aber auch die staatlichen Verordnungen, durch die der Bekennenden Kirche ab Dezember 1935 alle Wirkungsmöglichkeiten entzogen werden sollten, sind hier nachzulesen. Auch der Runderlass des Chefs der deutschen Polizei vom Herbst 1937, in dem die Auflösung aller von der Bekennenden Kirche errichteten Hochschulen und Prüfungsämter verfügt und alle von ihr veranstalteten theologischen Kurse und Freizeiten verboten wurden, gehört dazu. Wer sich bisher noch nicht eingehend mit der Geschichte der evangelischen Kirche im Dritten Reich befasst hat, findet Hintergrundinformationen, die zum Verständnis der geschichtlichen Situation, in der die Finkenwalder Rundbriefe entstanden, hilfreich und nötig sind. Vielleicht können Leser und Leserinnen nach der Lektüre eher ermessen, in welchem Erwartungs- oder besser: Befürchtungshorizont die da­mals Handelnden ihrer Verantwortung gerecht werden mussten. Dass das Dritte Reich am 8. Mai 1945 zusammenbrechen würde, konnte niemand vorauswissen. Das »Trinitatisgespräch«, der letzte Text der Hintergrunddokumente, zeigt, wie sich im Herbst 1941, als Hitler auf der Höhe seiner Macht stand, führende Kreise der Bekennenden Kirche darüber Gedanken machen (mussten), was auf die Kirche nach dem zu erwartenden »Endsieg« zukommen würde, wie sie diejenigen, die »mit Ernst Christen sein wollen«, überhaupt noch sammeln könne. Zitat: »Vom irdischen Organismus der Kirche kann nahezu alles zerstört werden. Was nicht zerstört werden kann, ist die Gemeinde […] Aus der Gemeinde aber baut sich der Organismus der Kirche immer von Neuem auf.«
Das von Karl Martin herausgegebene Werk führt in diesen Hintergrund ein. Aber es richtet sich nicht nur an kirchengeschichtlich Interessierte. Der Herausgeber versucht, in seinem ausführlichen Einleitungskapitel, in manchen Anmerkungen und einigen Exkursen der Nachbemerkungen die theologischen Grundgedanken nachzuzeichnen, die Bonhoeffer bei der Einrichtung und Gestaltung des Finkenwalder Seminars leiteten. Dass die Nachfolge Christi in Einsamkeit und Vereinzelung führt, dass ein »Bruch mit den natürlichen Gegebenheiten« verlangt sein kann, dass der Christus Nachfolgende aber dennoch mit einer neuen Gemeinschaft beschenkt wird, die ihn im Glauben und in der Fürbitte trägt, dies und noch mehr sollte in Finkenwalde erlernt und gelebt werden. Und dass es trug, hindurchtrug auch durch die kommenden finsteren Jahre des Krieges und der Verfolgung, davon haben Bonhoeffers Schüler, sofern sie überlebten, erzählt, dafür hat Bonhoeffer selbst mit seinem Leben Zeugnis gegeben.
Theologengenerationen nach dem Krieg haben sich für die Erfahrungen und Einsichten des Kirchenkampfes immer weniger interessiert. Sie wurden von anderen Problemstellungen bewegt. Die historisch-kritische Bibelforschung, Fragen der Hermeneutik, der Ruf zur Gesellschaftsveränderung, die Aufarbeitung der Israel-Thematik, Frauenemanzipation bestimmten das Interesse, nicht mehr die Frage nach Wesen und Bekenntnis der Kirche. Doch Zeiten ändern sich. Was heute aktuell scheint, kann morgen schon überholt sein, und was uns heute als abständig und weit überholt gilt, kann morgen mit ganz neuer Wucht auf uns zurückkommen. Mit den Fragen nach der Kirche, ihrem Wesen und eigentlichen Auftrag könnte es sich so verhalten. Angesichts von Traditionsabbruch, »Reformkrampf« (Friedhelm Schneider) und dem fortschreitenden Verlust biblischer und reformatorischer Orientierungen könnte uns das, was in Finkenwalde gedacht und aufzubauen versucht wurde, noch einmal ganz neu in den Blick treten. Wie kann eine Kirche, der es nur noch um ihre institutionelle Selbsterhaltung zu gehen scheint, wieder »Kirche Jesu Christi« werden? Wie kann sie, wenn sie einmal arm und einflusslos und ihrer Privilegien beraubt sein wird, ihrem Auftrag gemäß leben? Wie kann sie ihre jungen Theologen so zurüsten, dass diese auch selbst in dem Glauben gründen, den zu verkündigen sie beauftragt sind, und nicht länger darauf gerichtet sein müssen, das Wohlwollen und die Anerkennung der Menschen zu erlangen? Und schließlich: Was muss geschehen, damit die Vorstände der Gemeinden (und nicht nur sie!) wieder um die Elementaria des christlichen Glaubens wissen und, auf diesem Grund stehend, miteinander umgehen und das Gemeindeleben gestalten?
Wer diese Fragen heute stellt, wird mit Spannung und großem Gewinn die Zeugnisse aus Finkenwalde lesen, sei es im Werk von Karl Martin oder in dem von Ilse Tödt.