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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1119–1121

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Arnold, Matthieu

Titel/Untertitel:

Albert Schweitzer. Les années alsaciennes. 1875–1913.

Verlag:

Strasbourg: La Nuée Bleue 2013. 285 S. Kart. EUR 20,00. ISBN 978-2-7165-0818-6.

Rezensent:

Martin Greschat

Diese Untersuchung von Matthieu Arnold ragt aus der reichen Literatur über den Urwalddoktor insofern heraus, als sie sich auf die frühen, die prägenden Jahre Albert Schweitzers in seiner elsässischen Heimat konzentriert. In drei Teilen wird seine komplexe menschliche, geistige und religiöse Entwicklung anschaulich dargestellt. Der erste Teil setzt ein mit der Beschreibung seiner Kindheit und Jugend in einem kultivierten Pfarrhaus (19–40). Der junge Mann war überaus sensibel, naturverbunden und sehr musikalisch. Dabei konzentrierte er sich durchweg, auch einseitig, auf das, was ihn interessierte. Das Kapitel über Schweitzers Studium der Theologie und Philosophie in Straßburg schließt sich an (41–61). Entscheidenden Einfluss übte dort Heinrich Julius Holtzmann, der liberale Professor für Neues Testament, auf Schweitzer aus. Er ging jedoch bald insofern über seinen Lehrer hinaus, als er die Person Jesu gezielt im Licht der eschatologischen Naherwartung zu verstehen suchte. Im Zusammenhang mit der ethischen Ausrichtung der liberalen Theologie befasste sich Schweitzer sodann mit der Religionsphilosophie Kants. Reisen nach Berlin und Paris – wo er neben der Verbesserung seiner französischen Sprachkenntnisse sein Orgelspiel bei dem berühmten Charles-Marie Widor vervollkommnete – schlossen sich an. Im Alter von 27 Jahren war Schweitzer nicht nur Dr. phil. und Dr. theol., sondern habilitiert und von seiner elsässischen lutherischen Kirche ordiniert.
Mit der Darstellung des Umfangs und der Bedeutung der universalen Begabung Schweitzers beginnt der zweite Teil der Studie (63–158). Er wirkte seit 1898 als Pastor an der deutschsprachigen Sektion der Gemeinde St. Nikolaus im Zentrum Straßburgs (65–114), arbeitete als Privatdozent an der Universität sowie als Direktor des Theologischen Stifts (115–136) und war schließlich als Musiker tätig, als ausübender Künstler ebenso wie als Theoretiker, wobei seine besondere Liebe Johann Sebastian Bach galt (137–158).
Besonders ausführlich behandelt A. die Tätigkeit Schweitzers als Pastor. Vor allem mit diesem Abschnitt – er ist der umfangreichste des Buches – betritt A. Neuland. Schweitzer predigte in der Regel am Sonntagnachmittag. Sorgfältig überlegte er, wie es gelingen könnte, seine Hörer dazu zu bewegen, dass sie die Aussagen der Bibel begriffen und liebten. Denn das sei das Ziel seiner Predigten: »den Menschen Mut und Freude am Leben zu machen« (75). Das gelinge im Blick auf Jesus, der die Liebe und Güte Gottes veranschauliche. Ihm gelte es nachzufolgen – wobei Schweitzer auch von der »Ehrfurcht gegenüber Jesus« sprach. Die kirchlichen Dogmen überging der Prediger oder spiritualisierte sie, wie z. B. Jesu Auferstehung. Friede und Liebe sollten unter den Menschen herrschen. Zugleich unterstrich er die Bedeutung des Gebets als die Realisierung der Verbindung alles Denkens und Lebens mit Gott. Aufgrund solcher Überzeugungen stand Schweitzer Katholiken aufgeschlossen gegenüber, lehnte ausdrücklich den wachsenden Nationalismus, zumal der Deutschen und Franzosen, entschieden ab und trat für ein friedliches Nebeneinander liberaler und orthodoxer Christen in der Gemeinde sowie in der evangelischen Kirche insgesamt ein. Dabei verheimlichte Schweitzer seine theologische Überzeugung nicht und polemisierte niemals gegen andere Auffassungen. Die Reformation deute er so: Hier gehe es um eine »vergeistigte Kirche, die Gemeinschaft aller, die in sich Freiheit und Religion tragen, die lebendige Kräfte in der Menschheit sein wollen und die sich vom reinen Geist Jesu berührt fühlen« (94).
Erheblich kürzer wird die Arbeit des wissenschaftlichen Theologen behandelt. Schweitzer legte in seinen Vorlesungen vor allem die Synoptiker aus, daneben die kleineren Schriften des Neuen Testaments. Die Behandlung der großen Paulusbriefe blieb den Ordinarien vorbehalten. Die besondere Leistung jener Jahre bildete die »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« (1. Aufl. 1906). Dieses Werk ist zum Klassiker geworden. Schweitzer zog hier einen radikalen Strich unter sämtliche Versuche, Jesus durch jeweils zeitgenössische Modernisierungen zu aktualisieren. Der Mann aus Nazareth begegnete hier als ein ferner und fremder Mensch. Angemessen erschien daher lediglich ein Leben in der Nachfolge seines Geistes.
Eine beeindruckende Zusammenstellung der künstlerischen Aktivitäten bietet das letzte Kapitel dieses Teils der Arbeit. Schweitzer gab Konzerte an der Orgel, in Straßburg und weit darüber hinaus, bis nach Spanien. Er wirkte mit am Aufbau von Chören und verschiedenen Musikveranstaltungen, war ein geschätzter Fachmann für die Restaurierung und Installation von Orgeln, trug zur Verbreitung Bachs in Frankreich bei und initiierte eine große Ausgabe von dessen Werken. Aus alledem folgt: »Es war die Musik, viel mehr als die theologische Wissenschaft oder die pastorale Praxis, die ihm die Tore zur vornehmen Gesellschaft öffnete.« (158)
Der dritte Teil der Untersuchung behandelt »Die Berufung« Schweitzers (159–244). Hier geht es um seine Entscheidung, bei der Erreichung seines 30. Lebensjahrs ein eindeutiges Leben im Dienst für andere zu führen (161–180), die geistige Begleitung von Helene Bresslau, seiner späteren Frau (181–203), das Medizinstudium (205–220) und schließlich die Abreise nach Afrika (221–244). Dass Schweitzer keineswegs von Anfang an dorthin gehen wollte, sondern auch an die Möglichkeit dachte, sich z. B. um entlassene Strafgefangene zu kümmern, wird detailliert dargestellt. Doch zunehmend kristallisierte sich der Plan heraus, als Missionar und Mediziner im Kongo zu arbeiten. Dort wollte er den Eingeborenen durch Wort und Tat im Geiste Jesu helfen, sie erziehen und da­durch auch den Einfluss des Islam in Afrika zurückdrängen (175). Als dieses Projekt bekannt wurde, begegneten Schweitzer durchgängig Ablehnung und Unverständnis, auch in der eigenen Familie. Zu ihm hielt dagegen sein »treuer Kamerad«, Helene Bresslau. Obwohl Schweitzer viele Jahre lang intensiv und umfassend von dieser jungen Frau intellektuell und auch in praktischer Hinsicht begleitet wurde, erwähnte er sie in seinen Erinnerungen kaum. Hier erfahren wir, dass beide ihre »freundschaftlich-verliebte Be­ziehung« (182) im März 1902 in einen »Freundschaftsbund« überführten, worin beide sich zum jeweils eigenen Dienst im Geist Jesu verpflichteten, eine Ehe jedoch ausschlossen. Aber dann gingen beide nach Lambarene, wodurch die Eheschließung unumgänglich wurde. Trotz der Erklärungsversuche A.s bleibt hier vieles un­klar.
Das medizinische Studium Schweitzers dauerte fünf Jahre, woran sich noch zwei Jahre als Assistenzarzt anschlossen (1905–1912). Das Studium war ein gewaltiger Kraftakt, nicht zuletzt deshalb, weil er seine anderen Tätigkeiten kaum einschränkte. Er war schließlich unentwegt übermüdet. Doch Schweitzer schaffte es, nahm 1912 Abschied vom Pastorat und der Universität und heiratete Helene Bresslau. Am 26. März 1913 bestiegen beide in Bordeaux die »Europa« zur Fahrt nach Lambarene. Doch zuvor galt es, eine Reihe politischer sowie theologischer Schwierigkeiten zu überwinden. Auf dem Hintergrund der gefährlichen Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Frankreich und Deutschland in der 2. Marokkokrise (1911) schien es der Pariser Missionsgesellschaft – mit der Schweitzer seit Jahren verhandelte – gefährlich, den deutschen Elsässer in die französische Kongo-Kolonie zu berufen. Mit den politischen Einwänden verband sich die Ablehnung des von Schweitzer vertretenen theologischen Liberalismus. Er erklärte sich bereit, nur als Arzt zu wirken und zu schweigen »wie ein Karpfen«, wenn man es wünsche (230 f.). Die Missionare vor Ort in Afrika sahen das anders, so dass Schweitzer in Lambarene regelmäßig predigte.
A. bietet eine ebenso kenntnisreiche wie differenzierte Darstellung der ersten 38 Jahre des langen und reichen Lebens Albert Schweitzers. Sein Buch ist nicht nur höchst informativ, sondern auch ausgesprochen lebendig geschrieben. Man kann ihm nur viele Leser wünschen. Da die Kenntnis des Französischen leider abnimmt, wäre eine deutsche Übersetzung ausgesprochen wünschenswert.