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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

519–521

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Johannes.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1998. XXVI, 321 S. 8 = Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament, 4. Geb. DM 54,-. ISBN 3-374-01673-1.

Rezensent:

Otfried Hofius

Die Neubearbeitung des "Theologischen Handkommentars zum Neuen Testament", dessen Zielsetzung man in der Verbindung von philologischer Texterfassung und theologischer Interpretation sowie in einer präzisen und auf das Wesentliche konzentrierten Kommentierung erblicken darf, schreitet zügig voran. Mit der vorliegenden Rezension kann der Kommentar zum vierten Evangelium angezeigt werden, dessen Verfasser bereits durch seine Habilitationsschrift "Antidoketische Christologie im Johannesevangelium" (1987) wie dann auch durch eine Reihe von Aufsätzen als ein Kenner dieses Evangeliums ausgewiesen ist.

In der Erörterung der sog. Einleitungsfragen folgt Sch. fast durchgehend wortwörtlich der Darstellung, die er in seiner "Einleitung in das Neue Testament" (21996) gegeben hat. Das zwischen 100 und 110 n. Chr. wahrscheinlich in Ephesus von einem zur "johanneischen Schule" gehörenden Theologen verfaßte Evangelium stellt - von dem Nachtragskapitel Joh 21 abgesehen - in sprachlicher wie sachlicher Hinsicht ein in sich geschlossenes Werk dar. Seine literarische und theologische Gestalt ist keineswegs "das Resultat mehr oder weniger verunglückter Redaktions- und Kombinationsarbeit ..., sondern unmittelbarer Ausdruck eines imposanten literarischen und theologischen Aussage- und Gestaltungswillens" (26). Geschrieben wurde das Evangelium für eine überwiegend heidenchristliche Gemeinde, deren Geschichte und Gegenwart durch schwerwiegende theologische Auseinandersetzungen geprägt ist: Stand die Vergangenheit im Zeichen der Kontroverse mit Täuferkreisen einerseits und mit der jüdischen Synagoge andererseits, so ist in der Zeit der Abfassung des Evangeliums der innergemeindliche Konflikt mit "Doketen" virulent, die die Identität zwischen dem irdischen Jesus und dem himmlischen Gottessohn leugnen. Daß der in den Johannesbriefen bezeugte Konflikt mit doketischen Irrlehrern auch die Christologie des vierten Evangeliums "in zentralen Bereichen" bestimmt (10) und von daher gewichtige Texte als antidoketische Äußerungen verstanden sein wollen,1 wird man allerdings bezweifeln dürfen. Ich selbst finde in dem Evangelium lediglich eindeutige Zeugnisse für eine mit der Synagoge geführte Auseinandersetzung, in deren Zentrum die Frage nach der theologischen Legitimität des Bekenntnisses zur Gottheit Jesu steht. Wie man in dieser Sache urteilt, das hängt ganz wesentlich davon ab, ob man mit Sch. die Johannesbriefe dem Evangelium zeitlich vorordnet2 oder aber, wie es m. E. geboten ist, die Priorität des Evangeliums vertritt und die Briefe einem Schüler des Evangelisten zuschreibt. Während ich dem Vf. hinsichtlich der chronologischen Anordnung der johanneischen Schriften und der These einer antidoketischen Ausrichtung des Evangeliums nicht zu folgen vermag, stimme ich ihm im Blick auf andere Urteile voll zu. So bezweifelt Sch. zu Recht nicht nur die Existenz der von R. Bultmann postulierten Offenbarungsredenquelle, sondern auch die der Semeiaquelle, und er bestreitet ebenfalls mit überzeugenden Gründen, daß der religionsgeschichtliche Hintergrund des Evangeliums in der Gnosis zu suchen sei.

Zustimmung verdienen auch einige wichtige sachlich-theologische Urteile. Die "Basis des joh. Denkens" erblickt der Vf. mit gutem Grund in der christologischen Erkenntnis der "Seins- und Wirkeinheit von Vater und Sohn" (22). Überzeugend ist ferner die Erklärung, daß Jesu Weg "gerade bei Johannes von Anfang an unter der Perspektive des Kreuzes" steht (10), und ebenso die hermeneutische Einsicht, daß "der nachösterliche Rückblick ... für Johannes gleichermaßen theologisches Programm und Erzählperspektive" ist und der Evangelist "diesen Blickwinkel ausdrücklich thematisiert und zum Verstehensschlüssel seines ganzen Werkes erhebt" (21).

Für den methodischen Ansatz des Kommentars ist zweierlei kennzeichnend: 1. Sch. plädiert für "eine Kombination diachroner und synchroner Textinterpretation" (27), d. h. für eine Auslegung, die sowohl die Vorgeschichte und den Traditionshintergrund des Evangeliums zu ermitteln sucht wie auch seine uns vorliegende Endgestalt in den Blick faßt. 2. Hinsichtlich des Kommunikationsprozesses zwischen dem Autor und den Adressaten des Evangeliums unterscheidet Sch. zwei Ebenen, die bei der Textauslegung stets im Blick sein müssen: "die text-interne Ebene der fortlaufenden Erzählzeit(en) von der Prä- bis hin zur Postexistenz Jesu Christi" und "die textexterne Ebene der joh. Gemeinde, auf die hin Johannes seine Jesusgeschichte konzipierte" (27).

In der Kommentierung der einzelnen Perikopen des Evangeliums verfährt der Vf. so, daß er zunächst eine möglichst eng am griechischen Text bleibende Übersetzung bietet, an die sich, wo es als notwendig erscheint, textkritische Hinweise anschließen. Es folgen sodann sehr knapp gehaltene einführende Bemerkungen zum Text sowie eine Vers-für-Vers-Exegese, die in der Regel durch einige zusammenfassende Überlegungen abgeschlossen wird. Leider fehlt jeweils eine Strukturanalyse, die auf die sprachlich-syntaktische Gestalt des Textes - insbesondere auch auf die durch Partikeln und Konjunktionen markierten gedanklichen Verknüpfungen - achtet und von daher den Argumentationsgang präzise nachzeichnet. Der Verzicht auf solche Strukturanalysen ist vor allem deshalb erstaunlich, weil der Vf. doch mit Grund voraussetzt, daß das vierte Evangelium "unmittelbarer Ausdruck eines imposanten literarischen und theologischen Aussage- und Gestaltungswillens" ist (s. o.).

Es dürfte nicht zuletzt mit dem Verzicht auf Strukturanalysen zusammenhängen, daß die Einzelexegese nicht durchgängig das gleiche Niveau aufweist. Neben recht gründlichen, die Aussage der Texte erhellenden und für die exegetische Diskussion anregenden Interpretationen finden sich immer wieder auch Ausführungen, die den zu erläuternden Text schwerlich detailliert und differenziert genug exegesieren. Zuweilen erschöpft sich die Auslegung eines Verses sogar in einer bloßen Paraphrase.

Ein eigens zu erwähnendes Problem besteht darin, daß innerhalb der Einzelauslegung des öfteren Fragen, die für das Textverständnis relevant sind und deshalb m. E. in einem wissenschaftlichen Kommentar unbedingt erwähnt und wenigstens in aller Kürze erörtert werden müßten, nicht einmal angesprochen werden. Exemplarisch seien zu einige Stellen die entsprechenden Fragen notiert. 1,18: Heißt kolpos "Brust" (so Sch.) oder "Schoß", und welche Konsequenzen hat das jeweilige Verständnis für die Interpretation des theologisch hoch bedeutsamen Verses? - 1,29: Besagen die Worte ho airon teu hamartian tu kosmu, daß das Lamm Gottes "die Sünde der Welt trägt" oder daß es "die Sünde der Welt hinwegnimmt", und welche soteriologische Konzeption kommt im Falle der einen bzw. der anderen Übersetzung zur Sprache? - 3,5: Bezieht sich ex hydatos kai pneumatos auf die Taufe (so Sch.), oder haben wir es mit einem Hendiadyoin zu tun, das ausschließlich die Begabung mit dem Heiligen Geist beschreibt? - 3,34: Ist das Subjekt des Satzes u gar ek metru didosin to pneuma Gott, der Vater, und muß dementsprechend Jesus als der Empfänger des Geistes verstanden werden (so Sch.), oder ist Jesus das Subjekt, so daß von der Geistmitteilung an die Glaubenden die Rede ist?3 - 4,21.23: Wie verhält sich erchetai hora V. 21 zu erchetai hora kai nyn estin V. 23? - 5,27: Wie erklärt sich die im Johannesevangelium singuläre indeterminierte Formulierung in dem Satz hoti hyios anthropou? - 19,34: Ist die Wendung haima kai hydor auf Abendmahl und Taufe zu beziehen (so Sch.), oder geht es um Jesu Sühnetod und um die Gabe des von Sünden reinigenden Gottesgeistes? - 20,17b: Was besagt die im Munde des johanneischen Jesus auffallende Formulierung "zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott"?

In die kritische Auseinandersetzung mit exegetischen Einzelurteilen des Vf.s einzutreten, ist hier weder möglich noch sinnvoll.4 Dagegen sei auf drei das Gesamtverständnis der johanneischen Theologie betreffende Problemkreise wenigstens kurz hingewiesen: 1. Sch. entnimmt dem Johannesevangelium die Aussage, daß Jesu Wunder den rettenden Glauben an ihn als den Sohn Gottes zu wirken vermögen (z. B. 62.173 f.192). Dem steht aber entschieden entgegen, daß zentralen Texten des Evangeliums zufolge der Glaube ausschließlich durch die worthafte Selbsterschließung Jesu gewirkt wird und einzig der Glaubende den wahren Sinn der Wunder Jesu zu erfassen vermag.5 2. Sch. ist eifrig bemüht, die johanneischen Prädestinationsaussagen durch den Hinweis auf die Entscheidungsfreiheit des Menschen zu relativieren (z. B. 82.127 f.139.206ff.209f.). Der Gedanke der Entscheidungsfreiheit läßt sich dem Evangelisten jedoch nur zuschreiben, wenn man ihm die bewußte Hinnahme eines massiven inneren Widerspruchs unterstellt und dann das Nebeneinander von göttlicher Setzung und menschlicher Freiheit zu einem für den Menschen undurchdringlichen "Geheimnis" erklärt (127 f.; vgl. 209). 3. Sch. plädiert nachdrücklich dafür, daß der vierte Evangelist ungeachtet des Primats der präsentischen Eschatologie durchaus an futurisch-eschatologischen Aussagen festgehalten habe (24 f.106 ff. 189 f. u. ö.). Um dieser These willen muß er dann etwa bestreiten, daß in 11,23-26 die Erwartung der endzeitlichen leiblichen Totenauferstehung (V. 24) durch die präsentisch-eschatologische Aussage V. 25 f. korrigiert wird (190). Die zur Begründung vorgetragene Argumentation6 verkennt den prinzipiellen Charakter des streng präsentisch-eschatologisch gemeinten "Ich bin"-Wortes 11,25b-26a.

Abschließend sei bemerkt: Daß der Vf. sich die Abfassung eines handlichen Kommentars zum Ziel gesetzt hat, ist durchaus zu begrüßen, sind doch insbesondere Pfarrer und Pfarrerinnen auf im Umfang überschaubare Auslegungen angewiesen. Gleichwohl muß bedauert werden, daß dem theologisch so gewichtigen Evangelium an einer Reihe von Stellen keine eingehendere Analyse und Interpretation gewidmet wurde.

Fussnoten:

1) So vor allem Joh 1,14; 3,5; 6,51-58; 19,28-30.34 f sowie die Wundergeschichten des Evangeliums.

2) S. dazu Antidoketische Christologie 65 ff.; Einleitung in das Neue Testament 519 ff.

3) Zu dieser für die Interpretation des Johannesevangeliums fundamentalen Frage s. die eingehenden Erörterungen bei H.-Chr. Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet, in: O. Hofius/H.-Chr. Kammler, Johannesstudien (WUNT 88), 1996, 87-190, 170 ff.

4) Angemerkt sei lediglich, daß die Ausführungen an manchen Stellen in sich widersprüchlich sind. Dafür nur zwei Beispiele: 1. In der Auslegung von 3,19-21 (77 f.) bleibt unklar, ob der Glaube bzw. Unglaube im ethischen Verhalten der Menschen begründet oder ob umgekehrt dieses Verhalten Folge des Glaubens bzw. Unglaubens ist. 2. Die Worte to ergon tu theu 6,29 werden zunächst (121) auf das von Gott geforderte und wenig später (127) auf das von Gott gewirkte Werk gedeutet.

5) S. dazu vor allem Joh 6,67-69; 9,35-38; 11,25-27.40. Wo im Johannesevangelium von dem durch die Wunder hervorgerufenen Glauben "Vieler" die Rede ist, handelt es sich stets um Scheinglauben und also um Unglauben.

6) "Der in Joh. 11,23-26 aufgestellte Gegensatz ist nicht prinzipieller, sondern aktueller Natur, denn nur das folgende Wunder erfordert die starke Betonung der präsentischen Eschatologie. Allein die Auferweckung des Lazarus als augenfällige Demonstration der gegenwärtigen Macht Jesu über Leben und Tod und als Vorabbildung der Auferstehung Jesu macht die prägnante Hervorhebung präsentischer Eschatologie notwendig" (190).