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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1111–1113

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Uhle, Tobias

Titel/Untertitel:

Augustin und die Dialektik. Eine Untersuchung der Argumentationsstruktur in den Cassiciacum-Dialogen.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2012. XIV, 293 S. = Texte zu Antike und Christentum, 67. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-16-151985-7.

Rezensent:

Josef Lössl

Augustins schriftstellerische Tätigkeit, soweit uns ihre Ergebnisse erhalten sind, begann bekanntlich mit dem Abfassen einer Reihe quasi-philosophischer Dialoge. Deren Studium hat immer wieder auch Philosophen angezogen. Tobias Uhle nähert sich ihnen in dieser Berliner Doktorarbeit mit der Frage nach Augustins Begriff der Dialektik. Διαλεκτικὴ τέχνη, das war in der Antike die Kunst des Argumentierens, Wahres von Falschem zu unterscheiden »und Widersprüche in der Argumentation zu vermeiden«, so U. (8), bzw. falsche Voraussetzungen zu widerlegen, wie es das dem Buch vorangestellte Platonzitat (Republik 533c) formuliert, um so zum »ersten Prinzip« selbst vorzudringen und in ihm Vergewisserung zu erlangen. Augustin hat diese Technik offenbar in seinem Rhetorikstudium erlernt. Er hat sogar eine Schrift mit dem Titel »Dialektik« (De dialectica) verfasst, deren Authentizität zwar lange umstritten war, aber seit Erscheinen einer von Belford D. Jackson und Jan Pinborg besorgten hervorragenden kritischen Edition im Jahr 1975 weitgehend gesichert ist. Sie legt nahe, dass Augustins Dialektikbegriff vom Sprachdenken der Stoa beeinflusst ist, was U.s Untersuchung erneut bestätigt. Dies bedeutet nicht, dass Augustin Stoiker war. Vielmehr dürfte er dieses Dialektikverständnis bereits in der neuplatonischen Philosophie seiner Zeit vorgefunden haben (5–6). Deshalb steht seine Verwendung stoischer Schlussmodi in den Cassiciacum-Dialogen auch nicht im Widerspruch zu seiner Beeinflussung durch die Definitions- und Urteilslehre des Porphyrius sowie durch die Kategorienlehre des Aristoteles (26.207–210).
U. geht diesen historischen Zusammenhängen nicht näher nach, sondern konzentriert sich auf eine formale Untersuchung von Augustins Argumentationstechnik. In insgesamt acht Kapiteln diskutiert er ebenso viele Fälle angewandter Dialektik in Augustins Frühdialogen: 1. das Theodizeeproblem in De ordine (35–39), 2. die Suche nach der Wahrheit in Contra Academicos 1 (40–78), 3. den Begriff verisimile in Contra Academicos 2 (79–85), 4. die Suche nach sicherem Wissen in Contra Academicos 3 (86–114), 5. die Frage nach dem guten Leben in De beata vita (115–153), 6. die Erkennbarkeit Gottes in Soliloquia 1 (154–183), 7. die Unsterblichkeit der Seele in Soliloquia 2 (184–223) und 8. die Veränderlichkeit der Seele in De immortalitate animae (224–248). Ein Schlusskapitel (249–256), einige nützliche Anhänge (darunter ein Glossar logischer Termini in Augustins Schriften und eine schematische Darstellung der von Augustin verwendeten Schlussverfahren) sowie Bibliographie (261–279) und drei Register (281–293) beschließen den Band.
Wie stellt sich Augustins Vorgehen im Einzelnen dar? Einige Auszüge müssen hier genügen. In De ordine inszeniert Augustin anhand des Theodizeeproblems eine Reihe von Aporien: Wie sind Gott und das Böse (malum) vereinbar? Wenn Gottes Liebe allumfassend ist, heißt dies, Gott liebt auch das Böse, etwa den Irrtum? In späteren Schriften, so U. (38 f.), unterläuft Augustin diese Aporie, indem er zwei zusätzliche Prämissen einführt: 1. Das malum hat kein substanzielles Sein, d. h. es »existiert« streng genommen nicht, sondern ist lediglich Privation des Guten. 2. Alles ist aus nichts (ex nihilo) erschaffen; d. h. indem Gott alles aus nichts schafft, erweist er sich zugleich als allmächtig und »allgütig«, und da das Böse kein eigenes Sein hat, braucht Gott es nicht zu lieben bzw. Gott liebt das in ihm, was Sein hat, nämlich das Gute in ihm, das ihm sein Sein verleiht. In De ordine fehlt eine solche Auflösung der Aporie. Da er Gottes Allmacht und Güte als unantastbare Prämissen postuliert sowie von den Gesprächsteilnehmern pietas als Grundhaltung einfordert, gemäß der diese Prämissen keinesfalls unterlaufen werden dürfen, bricht Augustin den Dialog nach wiederholten Anläufen ergebnislos ab. Nur andeutungsweise erwähnt er eine höhere Er­kenntnisebene, auf der sich eine Lösung finden ließe: [...] ordo studiorum sapientiae, per quem fit quisque idoneus ad intellegendum ordinem rerum (ord. 2,47). Diese liegt jedoch außerhalb des Rahmens der dialektischen Methode.
Wie die oben angeführte Liste nahelegt, spielte Augustin ähnliche Szenarien zu Fragen bezüglich der Erkennbarkeit von Wahrheit, des Erlangens von Gewissheit (»sicherem Wissen«) und Glück, der Erkennbarkeit Gottes und der Unsterblichkeit bzw. der Veränderlichkeit der Seele durch. Als am häufigsten von ihm angewandte dialektische Verfahren nennt U. Implikationen, Disjunktionen und Umformungen mit Hilfe gleichwertiger Ausdrücke. Im Zu­sam­menhang mit Letzteren lassen sich, so U. (249), »Manipulationen nachweisen,« d. h. Augustin nutzt »das semantische Spektrum bestimmter Begriffe für das jeweilige Argumentationsziel gezielt aus.« U. untersucht diese Technik insbesondere im Fall der Frage nach dem Glück in Contra Academicos 1 und De beata vita, wo Glück mit Weisheit und dem Erlangen wahrer Erkenntnis bzw. Unglück mit Mangel und der Abwesenheit wahrer Erkenntnis gleichgesetzt wird. Augustin, so U., orientiert sich damit am sto­-ischen Modell des vollkommenen Weisen und weist das akade-mische Modell zurück, wonach das Glück bereits im Prozess der Suche bzw. des Strebens nach Weisheit gefunden werden kann, da ja die vollkommene Weisheit und somit das Glück auch in der Einsicht bestehen könne, dass die Suche nach Weisheit nie an ein Ende gelangt. So zeigt es sich, dass Augustin bereits in den Frühdialogen letztlich nicht an philosophischen Antworten auf seine Fragen interessiert ist. Sein Ziel ist es vielmehr, »für die in den Dialogen diskutierten Probleme jeweils christliche Lösungen« herzuleiten (253). Er nimmt in dieser Hinsicht bereits jene mittelalterlich-scho lastische Sichtweise vorweg, wonach die Philosophie als Magd (ancilla) der Theologie dient. Er tut dies aber nicht wie die mittelalterlichen Scholastiker als Vertreter eines breit angelegten Bildungssystems. Sein Hintergrund ist vielmehr ein ganz bestimmter, individuell geprägter. Nur ganz allgemein spielt U. auf diesen an, wenn er etwa von der Auffälligkeit spricht, dass Augustin »zu­nächst ausschließlich auf der Basis pagan-philosophischer Prämissen argumentiert, während spezifisch Christliches lange Zeit unsichtbar oder zumindest im Hintergrund bleibt« (253). In der Forschung vergangener Jahrzehnte wurde dieses Phänomen oft als Hinweis auf eine allmähliche Bekehrung Augustins gedeutet, von einer skeptischen über eine platonische hin zu einer christlichen Phase. In jüngerer Zeit wird es eher unter der Rücksicht verschiedener Argumentationsstrategien im Hinblick auf die jeweiligen Adressaten gedeutet. Insbesondere im Fall von Contra Academicos ist es deshalb relevant, dass der Adressat, Romanianus, wie Augus­tin selbst nur wenige Jahre vorher, Manichäer war. Er dürfte für eine eher existenziell-dialektische, christlich-orthodoxe Lehrsätze zunächst ausblendende, am Ende aber dann doch eine spirituelle Rhetorik einsetzende Argumentationsstrategie besonders an­sprech­bar gewesen sein. Augustins Frühdialoge reflektierten demnach also nicht nur ein Verhältnis zwischen pagan-philosophischen Fragestellungen und orthodox-christlichen Lösungen, sondern auch ein darunterliegendes Phänomen existenziellen (»christlich-philosophischen«) Fragens, das Augustin zunächst zum Manichäismus statt zur Orthodoxie geführt hatte, das ihn dann aber langfristig auch dazu motivierte, weiterzufragen, bis eine rational rechtfertigbare Grundlage für die Bekehrung zur Orthodoxie gefunden war. Diese letzteren Überlegungen gehen natürlich über die un­mittelbare Zielsetzung von U.s Untersuchung hinaus, möchten jedoch deren Nutzen in dieser Hinsicht unterstreichen. Wer immer sich künftig mit Augustins Frühdialogen beschäftigt, kommt um ein sorgfältiges Studium des vorliegenden Buches nicht herum.