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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1108–1111

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schultheiß, Jochen

Titel/Untertitel:

Generationenbeziehungen in denConfessiones des Augustinus. Theologie und literarische Form in der Spätantike.

Verlag:

Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2011. 317 S. = Hermes. Einzelschriften, 104. Kart. EUR 58,00. ISBN 978-3-515-09721-5.

Rezensent:

Charlotte Köckert

Die Monographie ist aus der klassisch-philologischen Dissertation hervorgegangen, die Jochen Schultheiß unter der Betreuung von Thomas Baier im Jahr 2008 an der Universität Bamberg abschloss. Sie entstand dort im Rahmen des interdisziplinären Graduiertenkollegs »Generationenbewusstsein und Generationenkonflikte in Antike und Mittelalter«. Die Arbeit ist dem wohl bekanntesten Text der christlichen Spätantike gewidmet, den Confessiones Augustins. S. stellt die Frage, wie Augustinus in diesem Werk, besonders in den biographischen Büchern conf. 1–9, Generationenbeziehungen und andere zwischenmenschliche Beziehungen konstruiert. Er bearbeitet diese Frage, indem er zentrale Passagen aus conf. 1–9 einer literaturwissenschaftlich-narratologischen und kulturwissenschaftlichen Lektüre unterzieht. Dabei liest er die Confessiones einerseits als einen literarischen Text, dessen Form der Vermittlung theologischer Aussagen an konkrete Leser dient; andererseits als ein exemplarisches Dokument der spätantiken Umbruchszeit, die er zum einen durch die christliche Anverwandlung literarischer Formen und Techniken, zum anderen durch die christliche Transformation römischer Familienwerte und Rollenbilder gekennzeichnet sieht. Die Anlage der Untersuchung spiegelt wider, dass sich die Forschung zu Augustinus im Allgemeinen und zu den Confessiones im Besonderen in jüngerer Zeit verstärkt literatur- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen geöffnet hat.
Im ersten Hauptteil (18–79) legt S. die methodischen Grundlagen seiner Untersuchung dar. Im zweiten Hauptteil (180–275) bietet er zunächst einen Überblick über Eltern-Kind-Beziehungen in der römischen Republik und Kaiserzeit (80–82), dem er die Konstruktion metaphorischer Eltern-Kind-Beziehungen im antiken Christentum gegenüberstellt (82–90). Es folgen allgemeine Überlegungen zur augustinischen Anthropologie (90–94) und ein knapper Überblick über die Rolle von Generationenbeziehungen in anderen Werken Augustins (94–104). Vor diesem Hintergrund analysiert S. schließlich in textchronologischer Reihenfolge ausgewählte Passagen der Confessiones. Besonderen Raum nimmt dabei die Analyse und Kommentierung von conf. 9 ein (192–273). Eine Zusammenfassung bündelt die Thesen (276–284), ein (nicht ganz vollständiges) Literaturverzeichnis und mehrere Register schließen die Studie ab. In der Darstellung der beiden Hauptteile finden sich einige Wie­derholungen. Das liegt daran, dass S. in der Vorstellung seiner methodischen Zugänge bereits die Ergebnisse seiner Textanalysen vorwegnimmt. Der erste Hauptteil kann daher in gewisser Weise als eine Synthese dessen gelesen werden, was der zweite Hauptteil an den Einzeltexten entwickelt.
Aus der methodischen Grundlegung greife ich zunächst die Darstellung aktueller literaturwissenschaftlicher Diskussionen zu den Confessiones heraus (18–47). S. widmet sich darin unter anderem den strittigen Problemen des Aufbaus und der Gattungsbestimmung der Confessiones. Dabei entschärft er die in der Vergangenheit zuweilen verbissen diskutierte Frage nach der Gattung, indem er festhält, dass die Confessiones wie andere Werke der Spätantike Merkmale verschiedener Gattungen tragen (33–37). Als Er­klärung erwägt er, dass ein vielfältiger Adressatenkreis Anleihen bei mehreren Gattungen erfordert (34). Besonders hebt er die Be­schreibung der Confessiones als eines christlichen Protreptikos hervor, die ausgehend von Erich Feldmann in der Forschung gewisse Akzeptanz gefunden hat. In ihr sieht er am stärksten die Perspek­tive der Leser berücksichtigt (26–29.34 f.). Den autobiographischen Charakter des Werks betrachtet er als eine literarische Strategie, die der Leserlenkung dient und darauf ziehlt, Verallgemeinerbares exemplarisch darzustellen. Indem die (auto)biographische Darstellung der Confessiones den Lesern verschiedene Möglichkeiten der Identifikation mit den Protagonisten bietet, zielt sie auf die Aneignung der theologischen Gehalte durch die Leser. Insgesamt sieht S. die literarische Strategie der Confessiones darauf ausgerichtet, die eigene Entwicklung, aber auch die anderer Personen – z. B. der Freunde Alypius und Nebridius, des Sohnes Adeodatus und besonders der Mutter Monnica – mit Hilfe theologischer Strukturen zu deuten und diese dabei an den Leser zu vermitteln. Er kann daher auch der Bestimmung der Confessiones als »theologisches Thesenbuch« (Kurt Flasch) etwas abgewinnen (37). Im Zu­sam­menhang seiner Textanalysen im zweiten Hauptteil der Studie zeigt er gelegentlich auf, dass der theologische Gehalt der biographischen Darstellung in den Confessiones den Aussagen ungefähr zeitgleicher theologischer Traktate Augustins entspricht.
Für die Analyse der literarischen Gestaltung der Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen in den Confessiones rückt S. zwei methodische Aspekte in den Vordergrund. Erstens: die Untersuchung intertextueller Bezüge vor allem zur Bibel, vereinzelt auch zu Texten des klassischen römischen Bildungskanons, und deren Pädagogik im Hinblick auf den Leser. Er greift hier theoretische Überlegungen zur Intertextualität in der antiken Literatur auf, die von Biagio Conte und Alessandro Barchiesi entwickelt wurden (37–42). Vor diesem methodischen Hintergrund gelangt er z. B. zu einer gegenüber der bisherigen Forschung differenzierteren Bewertung der Rolle, die Vergils Aeneis als Referenztext für die Erzählung der Confessiones spielt (172–178). Zweitens: die narratologische Unterscheidung mehrerer Erzählmodi mit Hilfe des Konzepts der Fokalisierung bzw. Perspektivierung; dieses auf Gérard Genette zurück-gehende Konzept zielt darauf, die Wahrnehmungssteuerung des Lesers durch die Art der literarischen Erzählung zu beschreiben (42–47). Die narratologisch sensibilisierte Lektüre bietet einige Einsichten in die Erzählstruktur der Confessiones und in die Funktion und Gestaltung der verschiedenen Protagonisten innerhalb der Erzählung. Sie wirft z. B. ein schärferes Licht auf die Figur des Vaters Patricius (134–140.141 f.). Außerdem führt sie zur Warnung vor voreiligen historischen Schlussfolgerungen aus der Darstellung der Confessiones (z. B. 116 über das ius maternae pietatis [conf. 1,11,17]; 143 über das Verhältnis Augustinus – Romanianus [conf. 3,4,7]; 224 f. über die Bedeutung von Dienstmädchen für die Erziehung römischer Kinder [conf. 9,8,17]).
In den Textanalysen des zweiten Hauptteils arbeitet S. heraus, dass zwischenmenschliche Beziehungen in den Confessiones auf mehreren Ebenen verhandelt werden: 1) Augustinus spricht metaphorisch von Vater, Mutter oder Geschwistern, um das Verhältnis zu Gott, zur Kirche oder das Verhältnis der Gläubigen untereinander zu beschreiben. Dabei ersetzt er leibliche durch geistige Beziehungen. Vor diesem Hintergrund unterscheidet er auch zwischen der leiblichen und der geistigen Mutterschaft Monnicas ihm ge­genüber. 2) Augustinus legt in der Darstellung seiner spirituellen Entwicklung den zwischenmenschlichen Beziehungen eine zentrale Rolle bei. Er präsentiert sie in den Confessiones als Instru-mente des göttlichen Wirkens. Außerdem zeigt der Charakter der zwischenmenschlichen Beziehungen den spirituellen Entwick-lungsstand der Protagonisten an: Augustinus definiert und be­gründet soziale Beziehungen neu durch die Ausrichtung auf Gott. 3) Die Mitglieder seiner Familie dienen Augustinus als Projektionsflächen, um Kritik an dem klassischen Bildungskanon und an überkommenen Werten und Traditionen zu üben. In der Bewertung seines Konkubinats, in der Beschreibung der Ehe seiner Eltern und vor allem in der Darstellung seiner Mutter Monnica als exemplarischer christlicher Ehefrau schärft er schließlich das Ideal einer christlichen Ehe ein.
S. zeichnet nach, wie Augustinus in der Präsentation seiner Mutter Monnica christliche Rollenbilder für Frauen konstruiert. Besonders hervorzuheben ist seine Kommentierung der laudatio funebris in conf. 9 (213–257). In Aufnahme der intensiven Forschungen zur Konstruktion weiblicher Rollenbilder in der christlichen Antike (z. B. von Elizabeth Clark, Barbara Feichtinger, Corinna Seelbacher) zeigt er auf, wie Augustinus in der Darstellung der Figur Monnica traditionelle römische Rollenbilder einerseits modifiziert, andererseits christlich legitimiert. S. stellt überzeugend dar, dass Augustinus in den Confessiones, in denen er seine eigene Konversion zu einem asketischen Leben beschreibt, zugleich die Ehe als ein anerkanntes christliches Lebensmodell präsentiert. Er nimmt damit eine andere Position als sein Zeitgenosse Hieronymus ein, der die Ehe gegenüber dem asketischen Leben abwertet. An dieser Stelle möchte ich S. fragen, ob hier vielleicht eine Erklärung dafür zu suchen ist, dass Augus­tinus in den Confessiones seine Schwester (vgl. ep. 211,4; Possidius, Vita Aug.) nicht erwähnt, die anders als die Mutter Monnica als Beispiel weiblicher Askese dienen würde.
S. führt seine Untersuchung vor dem Hintergrund einflussreicher kulturwissenschaftlicher Thesen zur christlichen Spätantike. Diese werden im ersten Hauptteil dargestellt (50–72) und prägen die Textanalysen des zweiten Hauptteils. Die Konstruktion der Generationenbeziehungen und der sonstigen zwischenmenschlichen Beziehungen in den Confessiones sieht S. im Dienste einer Christianisierung bzw. Verinnerlichung der Wertebegründung, einer Auseinandersetzung mit der klassischen Bildung, einer Spiritualisierung und damit Sublimierung sozialer Beziehungen sowie einer ambivalenten Neudefinition sozialer Rollen. S. betrachtet Augustinus als einen der maßgeblichen Akteure des kulturgeschichtlichen Umbruchs, der durch die Verinnerlichung sozialer Beziehungen zu einer »Schwächung der sozialen Verbände« (Jochen Martin) geführt habe (53). Dieses Urteil, das die Transformationen der christlichen Spätantike vor dem Hintergrund eines Dekadenzmodells beschreibt, überzeugt mich nicht. Einerseits folgt S. damit einem Urteil, das bereits die antiken Kritiker des Christentums bzw. der asketischen Bewegung vorbrachten; andererseits verharrt er damit erstaunlicherweise in einer plakativen Ge­genüberstellung von »weltlich-paganer« und »christlicher« Kultur, die er mit seiner Arbeit eigentlich überwinden möchte. Von der literarisch-propagandis­tischen Konstruktion sozialer Rollen auf die »faktische« Gestalt sozialer Strukturen zu schließen, müsste noch stärker abgesichert werden.
S. fomuliert mit seiner Studie die anregende These, dass ein Thema der Confessiones die christliche Neubegründung von Gemeinschaft ist. Seine Beobachtungen zur Transformation zwischenmenschlicher Beziehungen in den Confessiones weisen dabei in eine ähnliche Richtung wie Untersuchungen zur Transformation des klassischen römischen Freundschaftsideals bei Augustinus. Mit dem literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansatz seiner Studie überwindet S. die Engführungen einer oberflächlich biographistischen oder gar psychoanalytischen Interpretation der Confessiones. Das Verdienst seiner Untersuchung besteht schließlich darin, die me­thodisch vielfältige, interdisziplinäre Confessiones-Forschung am Beispiel einer konkreten Fragestellung zu bündeln. Seine Studie zeigt aber zugleich, dass die präzise historische Einordnung der Confessiones in die philosophisch-theologischen, sozialethischen und kulturellen Debatten des 4./5. Jh.s trotz intensiver Forschung noch nicht abgeschlossen ist.