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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1105–1107

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Karfíková, Lenka

Titel/Untertitel:

Grace and the Will According to Augus­tine.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2012. XIV, 428 S. = Supplements to Vigiliae Christianae, 115. Geb. EUR 158,00. ISBN 978-90-04-22533-6.

Rezensent:

Josef Lössl

Augustins Gnadenlehre ist eines jener Phänomene in der westlichen Theologie- und Geistesgeschichte, mit dem sich jede Generation neu auseinanderzusetzen hat. Mit Lenka Karfíkovás Monographie liegt nun einer der gewichtigsten Beiträge aus dem ersten bzw. zweiten Jahrzehnt des 21. Jh.s vor. Das tschechische Original wurde 2006 unter dem Titel Milost a vůle podle Augustina in Prag veröffentlicht. Bei der hier besprochenen Version handelt es sich um Markéta Janebovás hervorragende und überaus gut lesbare Übersetzung ins Englische.
Wie im Titel bereits angedeutet, konzentriert sich K.s Untersuchung auf die Zusammenhänge zwischen Gnade und Willen, wobei es in Bezug auf Letzteren sowohl um die Frage nach der Freiheit des Willens als auch um die Frage nach dem Konzept des Willens als Zentrum individuellen menschlichen Handelns geht, dessen Erfindung Augustin mitunter zugeschrieben wird. Von besonderem Interesse in Bezug auf diesen letzteren Aspekt ist der »Epi­log« mit der Überschrift »Augustine as a Philosopher of the Will« (347–351), der die wichtigsten Forschungsbeiträge der letzten drei bis vier Jahrzehnte sowie die wichtigsten Fragestellungen kurz anspricht, insbesondere etwa die Abwesenheit eines umfassenden Willensbegriffs im antiken und frühchristlichen Denken vor Augustin und Augustins Einführung eines Begriffs des »bösen Willens« ( mala voluntas), d. h. eines Willens, der das Böse rein um seiner selbst willen »will« (gratis malum).
Obwohl K. für ihre Untersuchung Augustins Gesamtwerk in Betracht zieht und Schriften aus allen Abschnitten seines literarischen Schaffens behandelt, lassen sich doch gewisse Schwerpunkte ausmachen. Besondere Aufmerksamkeit wird etwa Werken gewidmet, die zwischen 394 und ca. 400 entstanden sind, sowie Werken im Kontext der pelagianischen Kontroverse und der Auseinandersetzung mit Julian von Aeclanum. Folge dieser Schwerpunktsetzungen ist die »Entrümpelung« eines Inventars, das sonst kaum zu bewältigen wäre, und damit die leichtere Lesbarkeit des Werkes und Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation.
Insgesamt zerfällt K.s Studie in drei Teile. Ein erster Teil widmet sich dem Frühwerk Augustins (386–390) und der Periode bis zur Bischofsweihe (390–395). Er umfasst die Seiten 7 bis 65 und ist überschrieben mit einem Zitat aus den Soliloquien (1,1,5): »Nichts anderes habe ich als Willen« (nihil aliud habeo quam voluntatem). In ihm geht es vor allem um die Entwicklung eines umfassenden Willensbegriffs und dessen Verwiesenheit auf die göttliche Gnade aufgrund der Unvollkommenheit und Sündhaftigkeit des Menschen. Zu einer gewissen Vollendung gelangt dieses Denken, wie K. zeigt, im dritten Buch von De libero arbitrio und in den zwischen 393 und 395 entstandenen paulinischen Kommentarwerken.
Der zweite Teil (69–155) umfasst die Jahre 395 bis 411 und diskutiert Werke wie die beiden Antworten an Simplicianus zu Röm 7 und 9, die Confessiones, eine Reihe weiterer Werke aus der Zeit unmittelbar nach der Bischofsweihe (darunter etwa eine Auswahl antimanichäischer Themen und ein Abschnitt zu De Genesi ad litteram 1–9) sowie antidonatistische Werke. Dieser Teil trägt als Titel das bekannte, auf die zweite Antwort an Simplicianus bezogene Zitat aus den Retractationes (2,1,1): »Die Gnade Gottes siegte« (…vicit Dei gratia). K. legt in diesem Teil besonderen Wert darauf, die Nachhaltigkeit der in Ad Simplicianum 1,2 zum Ausdruck kommenden Akzentverschiebung vom Willen zur Gnade auch in solchen Bereichen aufzuzeigen, die sonst in gnadentheologischen Un­tersuchungen eher vernachlässigt werden, etwa in antidona­tistischen Werken. Besonders interessant ist deshalb der letzte Ab­schnitt dieses Teils, der Verbindungslinien zwischen Ad Simplicianum 1,2 und Augustins antidonatistischer Polemik anspricht.
Der dritte, letzte und längste Teil (159–336) untersucht Werke aus den Jahren von 411 bis 430. Es geht hier insbesondere um die »beiden« pelagianischen Kontroversen gegen Pelagius und Caeles­tius (167–211) und gegen Julian von Aeclanum (297–336). Beachtung findet aber auch eine ganze Reihe anderer wichtiger Werke, die zusammen einen überaus gehaltvollen Abschnitt (»Other Works from the Period 411–430«; 213–295) bilden. Darin behandelt finden sich etwa Werke wie De Trinitate und De civitate Dei oder auch ein Abschnitt aus den Enarrationes in Psalmos, der das Konzept einer bona, laudabilis concupiscentia einführt. Überschrieben ist dieser Teil mit einem in Werken dieser Zeit häufig zitierten Teilvers aus der Septuaginta-Version des Buchs der Sprichwörter (8,35), »Der Wille wird vom Herrn vor-/zu-bereitet« (praeparatur voluntas a domino).
Seinen Kulminationspunkt erreicht der dritte Teil jedoch in einer Diskussion der Auseinandersetzung zwischen Augustin und Julian von Aeclanum, insbesondere um Fragen bezüglich des Ur­sprungs und der Übertragung (»Vererbung«) von Sünde und Schuld im individuellen Menschen, der Rolle der menschlichen Sexualität in diesem Zusammenhang sowie der Willensfreiheit (d. h. ob es, wie Julian bezweifelte, nach Augustin eine solche überhaupt geben kann, oder ob Julian, wie Augustin dafürhielt, eine von Gott losgelöste, »emanzipierte« und damit letztlich »gottlose« menschliche Willensfreiheit behauptete).
Die Spannungen zwischen den Entwürfen Augustins und Julians reichen auch in K. Schlussresümee hinein. K. bezeichnet die beiden Entwürfe als »konträr«, jedoch nicht völlig unvereinbar (337). Sie hält Augustins Betonung der Gratuität der Gnade für »spirituell gehaltvoll« und schöpfungstheologisch fundiert. Augustin gehe jedoch zu weit, so K., wenn er den Willen Gottes als letztlich einzig wirksame Ursache für das menschliche Wollen und Tun des Guten postuliere (338). Damit schließe Augustin den Menschen letztlich aus Gottes Heilswirken aus und mache ihn zum Objekt desselben. Julians Einwand gegen diese Einseitigkeit sei wohl begründet, auch wenn Julians eigene »optimistische Anthropologie« nicht in der Lage sei, das gesamte Spektrum der condition hu­maine und insbesondere das Leid der Menschheit zu erklären (340).
K. sieht eine mögliche Lösung der von Augustin aufgeworfenen Probleme weniger in der optimistischen Anthropologie Julians als im Denken Augustins selbst. Augustins Aussage, dass das Böse im menschlichen Willen seinen Ursprung habe, so K., beziehe sich letztlich nicht auf eine historische Situation, also die Situation des ersten Menschen, Adam, dessen Sünde und Schuld sich durch Vererbung auf alle weiteren Menschen übertrage. Es handle sich hier vielmehr um die Ontologisierung einer mythischen Geschichte vom Anfang der Menschheit. Sobald Augustin nämlich den Willensbegriff selbst analysiere, werde klar, dass der eigentliche Grund für alles Scheitern, den der Mensch in sich selbst finde, ein Nichts (»nothingness«) sei. D. h. innerhalb der Geschichte gebe es keinen Menschen, der die miserable Situation der Welt ausschließlich als Ergebnis der Tätigkeit seines eigenen Willens erkenne, auch wenn der individuelle Wille jedes einzelnen Menschen das Elend dieser Situation in vielerlei Hinsicht erheblich verschärfen könne (345).
Mit diesen hochinteressanten Schlussgedanken empfiehlt sich diese hervorragend und solide gearbeitete, dabei aber durchgängig gut lesbare Studie erneut nicht nur Augustinusforschern, sondern allen an theologischer Anthropologie interessierten Lesern.