Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1102–1105

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Fürst, Alfons [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Origenes und sein Erbe in Orient und Okzident.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2011. 265 S. = Adamantiana, 1. Kart. EUR 39,00. ISBN 978-3-402-13710-9.

Rezensent:

Marco Zambon

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Fürst, Alfons, u. Christian Hengstermann [Hrsg.]: Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit. Münster: Aschendorff 2012. 307 S. = Adamantiana, 2. Geb. EUR 42,00. ISBN 978-3-402-13711-6.


Die zwei – typographisch sehr schön gestalteten – Bände eröffnen eine Reihe, die dazu beitragen soll, durch Texte, Übersetzungen und Studien das origenische Denken in Kontext und Nachwirkung zu erforschen und seine philosophische und theologische Bedeutung herauszustellen. Diese doppelte Zielsetzung wird von den hier versammelten Beiträgen wirkungsvoll verwirklicht, vor allem in Bezug auf die neuzeitliche Rezeption von Origenes (es scheint mir bezeichnend, dass für den Buchdeckel eine schöne Abbildung aus dem 17. Jh. gewählt worden ist). In ihnen werden die Vorträge veröffentlicht, die im Oktober 2008 und im Februar 2010 in Müns­ter anlässlich zweier Tagungen zu Origenes gehalten wurden.
Der erste Band gliedert sich in drei Teile. Der erste dient als Einführung zum Band und zur ganzen Reihe: A. Fürst und C. Markschies erhellen die Bedeutung und Aktualität von Origenes, sowohl was seine Forschungsmethode als auch was einige Themenkreise seines Denkens betrifft. Beide unterstreichen die sokratische Methode, nach der Origenes seinen theologischen Fragen nachgeht. Inhaltlich wird die Aktualität des origenischen Denkens von Fürst am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Kelsos und Origenes über die gesellschaftliche Rolle der christlichen Religion dargestellt, während Markschies sie am Beispiel der Lehre der Allversöhnung erläutert.
Im zweiten Teil begegnet man vier Aufsätzen, die wichtige Lehren und literarische Züge vom origenischen Werk erhellen. C. Hengs­termann versucht die Frage zu beantworten: »Was entspricht bei Origenes der dritten plotinischen Hypostase, der Weltseele?« Er zeigt, dass die platonische Lehre der Weltseele von Origenes heilsgeschichtlich umgedeutet wird, indem er im göttlichen Logos das Prinzip sieht, das die ganze Welt durchdringt. J. Lössl un­tersucht den Beitrag, den die in Origenes gipfelnde frühchristliche Exegese von Röm 2,14–16 der modernen Debatte über die Begriffe von Natur, Gesetz und Gewissen geben kann. L. Perrone zeichnet eine Geschichte der Forschung über die Abhandlung De oratione. A. Cacciari behandelt einen Aspekt, der heute eine wachsende Aufmerksamkeit bei den Forschern findet: die literarische und rhetorische Ausbildung von Origenes. Mit seiner Darstellung der Art, wie Origenes in den biblischen Kommentaren die Figur der Abschweifung (ekbasis) benutzt hat, zeigt C., wie ergebnisreich eine systema­tische Überprüfung und Würdigung der stilistischen und sprachlichen Eigenschaften von Origenes Werken sein könnte.
Der dritte Teil bietet vier Beiträge an, die das Erbe von Origenes– in einem sehr weiten Sinn verstanden – bis zum 10. Jh. behandeln. Z. Esterton stellt das Verhältnis vom Bischof Viktorinus von Pettau zum exegetischen Werk des Origenes dar und versucht ge­nauer zu bestimmen, in welchem Maß Viktorinus Origenes’ Erbe aufgenommen und umgestaltet hat. D. King untersucht eine syrische Handschrift des 7. Jh.s (British Library Additional 14658), die eine Sammlung von logischen, kosmologischen und rhetorischen Schriften enthält. K. zeigt, wie zur Zeit der Zusammensetzung dieser Texte die Bezeichnung origenistisch als allgemeines Kennzeichen für jede Denkrichtung verwendet wurde, die – wegen ihrer Offenheit für die griechische Philosophie – als verdächtig empfunden wurde. Ausgehend von M. Meyerhofs These über die Übertragung der alexandrinischen Philosophie nach Bagdad zur Zeit der Abassiden erörtert J. W. Watt die Rolle, die in diesem Prozess christliche Gelehrte wie Sergius von Reshaina und syrische Klosterschulen wie Qenneshre gespielt haben. Durch die Untersuchung der sprachlichen Eigenschaften einer arabischen Übersetzung der Rede 40 von Gregor aus Nazianz belichtet E. Tokay einige Züge der von der melkitischen Kirche unternommenen Anpassung der christlichen Theologie an eine muslimisch gewordene Umgebung.
Obwohl im Titel nur die Neuzeit genannt wird, dehnt sich auch im zweiten Band die Darstellung des origenischen Erbes über eine weite chronologische Strecke – von Pico della Mirandola (1463–1494) bis zum gegenwärtigen italienischen Theologen Vito Mancuso. Der Band ist in vier Teile gegliedert. Im ersten (Das Freiheitsdenken des Origenes in der Neuzeit) bieten die Aufsätze von A. Fürst, E. Scho-ckenhoff und Th. Kobusch unter verschiedenen Gesichtspunkten eine einleitende Zusammenfassung über die Wirkungsgeschichte des origenischen Denkens in der neuzeitlichen und heutigen Philosophie und Theologie, besonders im deutsch- und englischsprachigen Raum. Die These, die in diesem Band vertreten wird, ist, dass der neuzeitliche Autonomie- und Freiheitsgedanke hauptsächlich eine Leistung »der philosophischen Selbstreflexion des Christentums« ist (Fürst, 10), bei der Origenes einen wesentlichen Beitrag geleistet hat, und nicht ein Erfolg der Kultur der Aufklärung. Auf die enge Beziehung zwischen christlicher (besonders origenischer) Tradition und moderner Auffassung des Menschen weist im Titel die bewusste Andeutung an die kantianischen Be­griffe von Autonomie und Würde hin (Fürst, 40).
Man kann dieser These zustimmen, obwohl der Begriff des origenischen Einflusses manchmal in einem so weiten Sinn gebraucht wird, dass es nicht ganz klar ist, ob und wo man von einer bestimmenden Einwirkung des Origenes auf das Denken eines modernen Schriftstellers sprechen darf und wo man eher mit Ähnlichkeiten oder mit einer indirekten Vermittlung (z. B. durch die Kappadokier oder durch den Neuplatonismus) von Gedanken zu tun hat, die bei Origenes zu finden sind.
Im zweiten Teil (Origenismus und Humanismus) werden von R. B. Hein, C. Hengstermann und P. Walter die Beziehungen von J. Co­let (1467–1519), E. von Rotterdam (1469–1536) und M. Luther (1483–1546) zu Origenes oder origenischem Gedankengut besprochen. Der dritte Teil ist der platonischen Schule von Cambridge gewidmet: D. Hedley legt den historischen und philosophischen Rahmen dar und zeigt am Beispiel von drei wichtigen Vertretern (J. Smith, H. More, R. Cudworth), wie tiefgreifend und unterschiedlich der origenische Einfluss auf diese Gruppe von Schriftstellern gewesen ist. Der Beitrag von U. Weichert behandelt eine 1661 in London gedruckte anonyme Schrift A Letter of Resolution Concerning Origen and the Chief of His Opinions, die eine Apologie und Auslegung der wichtigsten Lehren des Alexandriners ist. Der Beitrag von S. Hutton zeigt, dass A. Conway (1630–1679), obwohl sie in ihrem Werk The Principles of Most Ancient and Modern Philosophy Origenes nicht ausdrücklich nennt, Meinungen vertritt, die aus einer intensiven Befassung mit seinen Lehren stammen, besonders in Bezug auf die ethische Entwicklung der geistigen Wesen und auf die Vorläufigkeit und den medizinischen Charakter der Höllenstrafen.
Die letzten drei Aufsätze handeln von Origenes in Idealismus und Moderne. Mit einem katholischen Vertreter der Tübinger Schule befasst sich M. Wasmaier-Sailer; es geht um F. A. Staudenmaier (1800–1856), in dessen Werk die Kenntnis und die kritische Auseinandersetzung mit der Anthropologie von Origenes sich mit dem Einfluss des deutschen Idealismus verknüpfen. K. Müller verfolgt die Spuren von Schellings Origenismus; dabei kann man von einer direkten Abhängigkeit des deutschen Philosophen von Origenes nicht sprechen, obwohl er seine Werke gelesen hatte (253–254). M. versucht indirekt die Beziehung von Schellings Naturphilosophie und Freiheitslehre zum origenischen Erbe zu erhellen, indem er zwei Autoren bespricht (A. Döblin und J. Habermas), die zugleich einen deutlichen Bezug zu Schelling und zu Origenes aufzeigen. M. Rizzi zeigt in seinem Beitrag, wie die origenische Idee der Allversöhnung auch außerhalb der akademischen Theologie und Philosophie heute weiterlebt und entwickelt wird – zum Teil in ausdrück­lichem Bezug auf Origenes bei V. Mancuso (geb. 1962) und P. Berger (geb. 1929), in indirekter (und wahrscheinlich auch unbewusster) Weise beim berühmten Logiker A. Gödel (1906–1978).
Fazit: Beide Bände bieten einen sehr reichen und nützlichen Stoff zur besseren Kenntnis wichtiger Fragen des origenischen Denkens, der Geschichte seiner Rezeption und des heutigen Forschungsstandes.