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Ausgabe:

Mai/1999

Spalte:

516–518

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schenke, Ludger:

Titel/Untertitel:

Johannes. Kommentar.

Verlag:

Düsseldorf: Patmos 1998. 443 S. gr. 8. geb. DM 68,-. ISBN 3-491-99216-8.

Rezensent:

Jürgen Becker

Einst schrieb W. Wrede (in: K. H. Rengstorf [Hrsg.], Das Paulusbild in der neueren Forschung, WdF 24, 1964, 74): "Athene sprang gewappnet in voller Kraft aus dem Haupte des Zeus hervor. So ist die Theologie des Paulus nicht entstanden. Sie ist gewachsen und geworden, und wir begreifen sie wie alles Geschichtliche nur in dem Maße wirklich, als wir in ihr Werden hineinsehen." Diese Perspektive, "alles Geschichtliche" wahrzunehmen, teilt Schenke nicht. Für ihn ist der Ist- und Endzustand eines gewordenen Phänomens von einer (fast geschichtslosen) Autarkie bestimmt, die losgelöst von ihrem "Werden" verstanden sein will (5). Der Blick in das "Werden" ist bei ihm zwar nicht - wie bei anderen - ein verbotener Sündenfall, aber doch zu einer unbedeutenden Nebensache degradiert: Der letzte Sieger einer geschichtlichen Entwicklung ist aus sich heraus alleiniges Maß für das, was gelten soll. So richtet sich z. B. sein Johannesverständnis an Joh 1-21 aus, darf z. B. nicht Joh 1-20 für sich interpretieren und Joh 21 als eine zu einem einst fertigen Werk gestellte Ergänzung betrachten. Nun kann man Wrede kritisieren, daß er das Woher zugunsten des Woraufhin zu stark betonte. Aber Sch. optiert nur einseitig für die andere Frage. Doch will "Geschichtliches" unter drei Wahrnehmungsperspektiven mit je gleichem Recht bedacht werden, nämlich: Woher etwas kommt, was es ist und wohin es zielt.

Der Grundentscheid von Sch. beruht auf neuzeitlichen Erwägungen, was ein Kunstprodukt - z. B. ein literarisches - sei. Nun kann solche Diskussion sicherlich auch für den Blick eines Exegeten, der antike Texte deutet, hilfreich sein. Aber wie man solche Theorien, ohne sie an der in diesem Fall frühjüdischen Textproduktion zu überprüfen, unmittelbar auf das JohEv anwenden kann, ist mir nicht nachvollziehbar.

Sch. möchte das JohEv als Kunstwerk verstehen, das konkret im Sinn griechischer Dramentheorie in 5 Akten und 12 Bildern aufgebaut ist und zumindest als Lesedrama konzipiert wurde (9-17; 398-405). Allerdings bleibt diese Analogie recht allgemein begründet, weil natürlich kein Beweis angetreten werden kann, ob die Kultur, in der die johanneischen Gemeinden lebten, überhaupt solche Dramentheorie kannte. Vieles spricht dagegen, etwa der frühjüdische Primärort des Joh oder der Umstand, daß das frühe Christentum das Theaterwesen insgesamt mied, doch auch, daß uns aus der reichen frühchristlichen Evangelienproduktion dazu keine Analogie bekannt ist.

Läßt man sich dennoch auf die Hypothese von Sch. ein, wird man nachfragen, ob diese Annahme mit den Kriterien des personellen Inventars, sowie der Orts- und Zeitangaben begründet werden kann (9 f.), sind sie doch Konstitutiva jeder literarischen Fassung von Handlungsabläufen. Sch. sagt, "kein Teil" dürfe "ohne Schaden für das Ganze entfernt oder ... umorganisiert werden" (16). Also gilt doch, wer nur über Joh 21 anders urteilt (weil er auch Mk ohne Mk 16,9 ff. und den Röm ohne Röm 16,25-27 auszulegen gedenkt) oder etwa in Joh 5-7 das jetzt ganz unverständliche Itinerar durch Umstellung (so seit Tatian) neu ordnet und so ein herausragend gutes Itinerar erhält, der hat die Dramentheorie für das JohEv stark beeinträchtigt.

Auch die Erklärung von Sch. zu 14,31; 18,1 befriedigt nicht (253 f.): Die Aufforderung zum Aufbruch als Hinweis für einen Orts- und Szenenwechsel, der wirkungslos bleibt, muß nun glatt uminterpretiert werden, indem aus dem Orts- ein Adressatenwechsel gemacht wird. Vorher seien die um Jesus versammelten Jünger, nachher die späteren Jünger und Leser angeredet. Beide Abschiedsreden wurden jedoch im selben Haus (17) gehalten. Einmal davon abgesehen, daß man so sicherlich die Abschiedsreden selbst nicht unterscheiden kann (wie jeder neuere Kommentar schnell belehrt), würde ein Autor eines Dramas sich so verquer äußern? Also: Die Zuordnung von 15,1-17,26 zu einem Drama ist völlig ungeklärt.

Weiter ist die Untergliederung in Joh 7,1-10,39 recht kontrovers und wenig einsichtig, warum dieser Textabschnitt ein einziges "Bild" sein soll. Auch wird man auf die ganz ungleiche Länge der "Bilder" hinweisen (extrem ist der Unterschied zwischen dem vierten und neunten Bild). Endlich ist vieles, was Sch. "dramatisch" deutet auch als Stilmittel bei den Synoptikern zu erkennen. Diese sind aber doch wohl keine Dramen. Das ergibt, zusammengefaßt, das Urteil, daß es wenig einleuchtet, die Einheit des Joh mit Hilfe der Dramentheorie zu begründen.

Leider ist Sch. auf seine Hypothese so eingestimmt, daß er selbst bei dem für ihn konstitutiven Erfassen von Strukturen und Formgebungen im JohEv rein monologisch verfährt, so daß die lange Diskussion über dieses Thema dem Leser auch nicht implizit vorgeführt wird. Es ist löblich, daß sich der Kommentar als Helfer versteht, der die Kommunikation zwischen Text und Leser zum Gelingen bringen will (Vorwort). Aber gehört nicht dazu das Offenlegen des Kontroversen und die wenigstens ansatzweise Ermöglichung für den Leser, nicht allein auf die eine Wahrnehmungsschneise des Kommentators angewiesen zu sein? Sch. will es vermeiden, hypothetische Vorstellungen zur Vorgeschichte des Textes zum Maß für die Auslegung zu machen, damit Text und Leser nicht dem Kommentator ausgeliefert seien (Vorwort). Man darf gegenfragen: Ist das, was Sch. tut, nicht ebenso hypothetisch, und liefert er nicht Text und Leser seiner Hypothese aus?

Trotz dieser Kritik gilt es nun dennoch, ein methodisches Verdienst von Sch. herauszustellen: Indem er sich mit den bisherigen Bemühungen um die Kohärenz und Einheit des Joh nicht zufrieden gibt und auf die Situationslosigkeit mancher Stücke, die Schwierigkeiten im Itinerar und die Verschiebungen bei den Darstellungsperspektiven nicht einfach harmonistisch reagiert, sondern diese Phänomene ernst nehmen will und dennoch die Einheit des Evangeliums erfassen möchte, geht er im Ansatz einen richtigen Weg. Ich selbst denke nur: Diese Einheit wird nicht auf der literarischen Ebene der Textsorte (z. B. als Drama) aufweisbar sein, sondern hat ihren Ort im Orientierungswissen der rezipierenden Gemeinden. Sie eignen sich das "gewachsene" Evangelium nicht mit literarischem Blick an. Darum "übersehen" sie Risse und Unterschiede (usw.). Sie nehmen es so auf, daß sie in ihm erkennen, was ihren Glauben stärkt. Diese Wahrnehmungsfokussierung bedingt, daß für sie alles andere von der komplexen Wirklichkeit des Evangeliums unbedeutend ist, ja unbewußt ausgeblendet wird. Also: Das Evangelium ist das Produkt einer Schule, doch die dazu passenden literarischen Kennzeichen werden von den Rezipienten durch die Konzentration auf eine positionell bestimmte Wahrnehmungsschneise unbeachtet liegen gelassen.