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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1089–1091

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Labahn, Michael, u. Martin Karrer[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 488 S. m. zahlr. Abb. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 38. Geb. EUR 64,00. ISBN 978-3-374-02879-5.

Rezensent:

Franz Tóth

Mit dem von Michael Labahn und Martin Karrer herausgegebenen Sammelband erscheint eine weitere umfassende Publikation zur Johannesapokalypse, die einmal mehr das wachsende Interesse der Forschung am letzten Buch des neutestamentlichen Kanons dokumentiert. Der wesentliche Bestandteil der 15 Beiträge des vorliegenden Bandes geht auf eine vom 26. bis 27. November 2010 abgehaltene Tagung in Wuppertal zurück. Gegliedert sind die Beiträge in drei große Teile: I Text/Textgeschichte, II Auslegung, III Wirkungsgeschichte und Hermeneutik, wobei die Frage der Textrekonstruktion und -überlieferung einen gewissen Schwerpunkt einnimmt. Abgerundet wird der Sammelband mit einer erstmalig deutschen Übersetzung der für den Text der Johannesoffenbarung wichtigen drei großen Handschriften, des Codex Sinaiticus, Alexandrinus und Ephraemi Rescriptus (399–473), die in einer Synopse wiedergegeben werden. Ein Stellenregister (475–485) und ein Sachregister (486–488) schließen den Band ab. In den ersten Teil, der sich den Fragen des Textes und seiner Geschichte widmet, fließen Ergebnisse eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojektes zur Schriftanspielung in der Johannesoffenbarung (2008–2010) ein, an welchem beide Herausgeber gearbeitet haben.
Nach einer Einführung durch die Herausgeber eröffnet Markus Lembke (19–69) den ersten Teil des Bandes mit einer Bestandsaufnahme der Handschriften der Johannesapokalypse, einer tabellarischen Übersicht über die Gesamtzahl der griechischen Handschriften und weiterführenden Vorschlägen zur Erhebung von Teststellen. Die Anzahl der 287 zur Verfügung stehenden Handschriften (21–29) ist freilich von der rasant fortschreitenden Textforschung bereits wieder überholt, wie die nachträglichen Korrekturen von L. auf nt-grundtext.de (Zugriff 26.04.2013) zeigen, wo die bislang unbekannten Handschriften 1768 und 2864 nun ebenfalls in die Liste aufgenommen werden müssen. Erste Ergebnisse lassen sich gleichwohl konstatieren: So ist der Textwert der bislang wenig berücksichtigten Minuskel 2846 in die Nähe der alexandrinischen Textform zu rücken (vgl. auch den Beitrag von L. in NT 54 [2012], 369–395). Für die von Martin Karrer verantwortete kritische Neuausgabe der Johannesoffenbarung werden die Ergebnisse von L. sicherlich von Nutzen sein.
Martin Heide präsentiert knapp den gegenwärtigen Stand der Forschung zur syrischen Johannes-Apokalypse (71–81) mit dem Ergebnis, dass eine kritische Edition der syrischen Apokalypse nach wie vor ein Desideratum der textkritischen Forschung ist. Juan Hernández, Jr. fragt nach den Rezensionsaktivitäten und der Überlieferung der LXX in der Johannesapokalypse (83–98). Das Ergebnis ist eher negativ: »no systematic attempts at recensional activity were un­-cov­ered.« (98) Zugleich hebt H. die Bedeutung der Johannesoffenbarung als Zeuge für vermutete Vorstufen des Theodotion, Aquila und Symmachus hervor (98). Michael Labahn untersucht (99–130) die Schriftrezeption in den großen Kodizes der Johannesoffenbarung, wobei die Grundfrage, ob die Abschreiber als frühe Textleser die kreative Schriftrezeption des Sehers erkannt haben, eher abschlägig beantwortet wird, denn: »Abschreiber waren in erster Linie Multiplikatoren ihrer Texte, gebunden an diesen Text, den sie mit Sorgfalt reproduzierten.« (129) Allerdings wäre die Argumentation im Blick auf den von L. als Beispiel erwähnten Text Offb 13,7 neu zu überdenken, wenn man textkritisch mit A C p 47 (und jetzt auch 2846 s. o.) liest, denn dann wäre die nach Dan 7,21 Theodotion erfolgte Ergänzung zum Langtext im Sinaiticus ein Hinweis auf die korrigierende Annäherung des Referenztextes an den Ausgangs­text. Daniel Tripalid unternimmt (131–143) anhand der Textvorlage des Sa­charja-Zitates in Offb 1,7 eine intertextuelle Tiefenbohrung mit dem Ergebnis, dass »das Zitat Sach 12,10 aus einer der hebräischen Vorlage zufolge revidierten Rezension des griechischen Textes geschöpft« sei (136). Stefan Alkier (147–171) will die Johannesoffenbarung dezidiert unter synchroner Perspek­tive als einen kunstvoll organisierten Text (148) lesen, was durch die Idee des »Mangels« strukturiert wird. Entgegen der vorherrschenden Forschungstendenz ist nach A. die Johannesapokalypse dabei aber keine antiimperiale Kampfschrift (159), vielmehr geht es allgemein um Machtkritik im Kontext einer theologischen Gesamtdeutung des Kosmos. Heinz Giesen (173–196) setzt sich mit unterschiedlichen Deutungen des Lammbegriffs, insbesondere mit der Tamidopferhypothese, auseinander, um sodann die eigene Paschalamm-Hypothese für die Johannesoffenbarung vor dem Hintergrund der apotropäischen Bedeutung des Paschalammes zu begründen. Michael Bachmann (197–221) fragt: »Wo bleibt das Positive?« in der Johannesoffenbarung und findet die Antwort in einer Neuübersetzung von Offb 17,5 mit »Mutter der Hurer« und einer dezidiert positiven Deutung des ersten Reiters in Offb 6,1 f., die s. E. einen Paradigmenwechsel (209) signalisiert. Martin Karrer (223–251) hebt dagegen die Polyvalenz im Text der Johannesoffenbarung hervor, indem er in der Interpretation des ersten Reiters aus Offb 6 sowohl dunkle (Apoll) als auch helle Deutungsalternativen nebeneinander stehen lässt und zugleich die textkritische Lesevariante nach Alexandrinus für den Namen des vierten Reiters in Offb 6,8 mit »der Unsterbliche« ins Gespräch bringt. Nach Rita Müller-Fieberg (253–274) impliziert das semantische Feld des Erntebildes in Offb 14,14–20 eher ein negatives Gerichtsbild, was freilich Fragen nach dem Positiven in der Johannesoffenbarung aufwirft. Thomas Witulski (275–309), der verstärkt für eine Spätdatierung der Johannesoffenbarung eintritt, präsentiert in seinem Beitrag zur argumentativen Struktur von Offb 11,3–13 die exegetische Basis einer darauf folgenden Studie zu Offb 11 und einer konsequent zeitgeschichtlichen Deutung von Offb 11 in die Zeit des Bar Kokhba-Aufstandes (vgl. W., WUNT 337). Dass die Darstellung der Zeugen in Offb 11 als militärisch erfolgreiche »prophetische Kämpfer« (297) in »einer deutlichen Spannung zu der sonst in der Offb zu beobachtenden politischen und militärischen Machtlosigkeit der Christen« steht (299), sieht freilich W. selbst. Marko Frenschkowski (311–327) erkennt anhand der chinesischen Seide in der Johannesoffenbarung eine dezidierte Kritik des Autors an der Gewinnsucht (324). Die folgenden Beiträge fokussieren die Wirkungsgeschichte und Hermeneutik der Johannesoffenbarung: Während Martin Meiser (331–345) die Gewaltphantasien der Johannesoffenbarung in der altkirchlichen Auslegung untersucht, zeigt Tobias Nicklas (347–370) die widersprüchliche Rezeption der Johannesoffenbarung bei Auslegern im Umfeld des Nationalsozialismus, die von unreflektierter Faszination bis zur extremen Abwertung reicht. Abschließend präsentiert Heribert Wahl (371–396) einen innovativen psychoanalytisch-hermeneutischen Zugang zur Johannesapokalypse, indem er die Lektüre der Johannesoffenbarung als ein emphatisch strukturiertes Beziehungsgeschehen begreift.
Der Sammelband bietet in der Summe einen breitgefächerten Zugang zur Johannesapokalypse mit wertvollen Beiträgen zur Textkritik, eine hilfreiche Übersetzung dreier wichtiger Handschriften zur Johannesoffenbarung und interessante Auslegungsperspektiven, die die Forschung sicherlich weiter befruchten werden.