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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1088–1089

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Alexeev, Anatoly A., Karakolis, Christos, u. Ulrich Luz [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Einheit der Kirche im Neuen Testament. Dritte europä­ische orthodox-westliche Exegetenkonferenz in Sankt Petersburg 24.–31. August 2005. Unter Mitarbeit v. K.-W. Niebuhr.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. X, 311 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 218. Geb. EUR 84,00. ISBN 978-3-16-149560-1.

Rezensent:

Thomas Söding

Die Einheit der Kirche ist ein heißes Eisen der Theologie. Die konfessionellen Positionen sind unterschiedlich. Ist die una sancta, so die protestantische Mehrheitsmeinung, eine unsichtbare Größe? Ist sie die Konkordanz der Ortskirchen, wie die Orthodoxie es sieht? Oder ist sie der sichtbare Leib Christi unter dem Haupt des Bischofs von Rom, wie die Katholiken es traditionell denken?
Die Brisanz erhöht sich, wenn nicht die Dogmatik, sondern die Exegese sich des Themas annimmt. Denn in allen Konfessionen wird die Bibel gelesen; das Neue Testament liegt den konfessionellen Traditionen voraus. Aber niemand kann die Schriften des Ur­christentums lesen, ohne die konfessionelle Brille auf der eigenen Nase zu leugnen, die den Blick lenkt und einiges deutlich erkennen, anderes aber unscharf werden und aus dem Blickfeld geraten lässt.
Deshalb ist es eine glückliche Wahl, dass die »Dritte europäische orthodox-westliche Exegetenkonferenz in Sankt Petersburg« sich 2005 des Themas angenommen hat. Es handelt sich um die Initiative der traditionsreichen »Studiorum Novi Testamenti Societas«, die, evangelisch und katholisch dominiert, nach der Wende die Kontakte zur Orthodoxie aufgenommen und in einer Serie von internationalen, interkonfessionellen und interdisziplinären Konferenzen das exegetisch-theologische Gespräch gefördert hat.
James D. G. Dunn (Durham) untersucht exegetisch das Verhältnis zwischen der einen Kirche und den vielen Kirchen (3–22), Jannuari Ivliev (St. Petersburg) die paulinische Ekklesiologie, dass die Kirche eine »eschatologische Realität« sei (23–32), StelianTofana (Cluj) die Beziehung zwischen der lokalen und der uni-versalen Kirche (33–44), Loveday Alexander (Sheffield) die Ekklesiologie der Apos­telgeschichte unter dem Aspekt der Katholizität (45–78). Gerd Theißen (Heidelberg) bestimmt soziologisch das Kirchesein der neutestamentlichen Ekklesia, die seit dem Apostelkonzil unterschiedliche Gruppen mit eigenen Riten, eigenem Ethos und eigenen Mythen umfasst (81–101). Eleni Kasselouri-Hatzivassiliadi (Thessaloniki) differenziert präzise die missionarische Rolle, die Frauen in der Geschichte des Urchristentums und in den Texten des Neuen Testaments gespielt haben (103–117). Eine eigene Abteilung reflektiert das Verhältnis von Kirche und Eucharistie. Petros Vassiliadis (Thessaloniki) geht von einer Kategorisierung der Eucharistietheologie aus (Mysterien, Judentum, Eschatologie), um mit diesem Instrument eine Entwicklungslinie von Q via Paulus zu Johannes nachzuzeichnen (121–145). Martin Ebner (Bonn) profiliert die jesuanischen Tischgemeinschaften bei Markus durch eine Aufhellung des Sauerteig-Motivs (147–168). Otfried Hofius (Tübingen) unterstreicht die Taufe und den Glauben als notwendige und hinreichende Bedingung der Eucharistiegemeinschaft (169–183). David G. Horrell (Exeter) beschreibt die sozialethische Funktion der Eucharistie, ein prinzipiell gemeinsamer, im Einzelnen sehr unterschiedlicher Ritus ziemlich divergierender Gruppen von Gläubigen zu sein (185–203). Eine weitere Abteilung untersucht den Aspekt der Mission. Hans Kvalbein (Oslo) kennzeichnet die urchristliche Mission in Konzentration auf die synoptische Tradition als ein unabgeschlossenes Projekt (207–229). Armand Puig i Tàrrech (Barcelona) spezifiziert unterschiedliche Subjekte und Formen der Mission, fokussiert auf den Ersten Petrusbrief (231–247). Den Abschluss bilden »Wirkungsgeschichtliche Aspekte« (249). Dimitrij Bumazhnow (Tübingen) benennt die ekklesiologischen Aspekte der Begriffsgeschichte von MONAXOΣ (264). Alexander Negrov (St. Petersburg) rekonstruiert ein orthodoxes Netzwerk der Ekklesiologie (265–275). Christos Karakolis (Athen) gibt einen genauen Bericht von den Beiträgen und Diskussionen, der vor allem die vielen Fragen aufwirft, die angestoßen worden sind (279–287).
Der Band ist aus drei Gründen ein Gewinn für die neutestamentliche Forschung. Erstens ist er ein Sammelbecken vieler profunder und neuer Blicke auf das neutestamentliche Themenfeld. Zweitens zeigt er, wie die Orthodoxie, die im internationalen Diskurs bislang vor allem auf Griechenland beschränkt ist, das Spektrum der theologischen Interpretationen auf substantielle Weise erweitert. Drittens zeigt er, wie die Exegese gerade dadurch ihre Dialogfähigkeit, ihre Beobachtungsgabe und ihr theologisches Sensorium schärft, dass sie sich auf aktuelle Fragen der Kirchen einlässt.
Der Band zeigt allerdings auch ein Desiderat an: So viele Studien über Kirche und Kirchen, Gemeinde und Gemeinden angestellt worden sind – der Begriff der Einheit bleibt blass. Er ist der permanente Bezugspunkt sowohl derjenigen Stimmen aus Ost und West, die ein offenkundiges Interesse haben, die Pluralität des Urchris­tentums zu betonen, als auch derjenigen, die den erstaunlichen Umstand verstehen wollen, dass sich die Gläubigen bei aller Verschiedenheit der Herkunft und der Glaubensstile, der Regionen und der sozialen Strukturen doch irgendwie als zusammengehörig empfunden haben. Aber was bei Paulus und in seiner Schule, was im Corpus Johanneum, was auch in der synoptischen Jesustradition überhaupt explizit und implizit als Einheit gedacht worden ist, so dass es kritisiert oder affirmiert, reflektiert oder transformiert werden könnte, müsste genauer diskutiert werden, damit die Positionen einerseits der neutestamentlichen Texte, andererseits der neutestamentlichen Exegese genauer justiert werden können.
Das reiche Material verdient starke Beachtung, nicht nur in der Bibelwissenschaft, sondern auch in der Dogmatik. Es setzt ein ökumenisches Ausrufungszeichen. Es ist der Beweis, dass die neutestamentliche Exegese aus unterschiedlichen Traditionen arbeits- und auskunftsfähig ist. Das ist selbst ein Beitrag zur Einheit der Kirche.