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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1083–1085

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Rothenbusch, Ralf

Titel/Untertitel:

»… abgesondert zur Tora Gottes hin«. Ethnisch-religiöse Identitäten im Esra/Nehemiabuch.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2012. XII, 468 S. = Herders biblische Studien, 70. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-451-30770-6.

Rezensent:

Maria Häusl

Ralf Rothenbusch untersucht in seiner überarbeiteten Habilitationsschrift aus dem Jahr 2008 die ethnischen und religiösen Identitäten im nachexilischen Juda (5. und 4. Jh. v. Chr.) im Zeugnis des Esra/Nehemiabuches. Die Studie besitzt zwei Teile, erstens eine ausführliche literarische und literargeschichtliche Analyse zum Buch Esra/Nehemia und zweitens die Beschreibung der (ethnisch-) religiösen Identitäten.
Ausgehend von der Forschungsgeschichte wird die Entstehung des Esra/Nehemiabuches dargestellt. Die literarische und literargeschichtliche Untersuchung befasst sich vor allem mit den drei zentralen Überlieferungsblöcken Esr 1–6, Esr 7–10 mit Neh 8 sowie Neh 1–7,5b; [11,1 f.]; 12,27–43; 13,4–31, die dem Buch vorgegeben seien (45–51). Die Buchredaktion habe das Wirken der Personen Esra und Nehemia verknüpft und eine zweigliedrige Komposition aus Esra 1–6 und Esr 7–Neh 13 geschaffen, wofür Esr 4 und Neh 7 als voraus- bzw. rückverweisende Elemente eingefügt worden seien. Die ausführlichen Analysen enthalten viele interessante literar- und redaktionskritische Beobachtungen, auf die ich nicht im Einzelnen eingehen kann. Folgende Thesen zeichnen die Literargeschichte aber aus:
1. Die Buchredaktion hat selbst kaum eigene Texte verfasst.
2. Dem Text Esr 1–6 (ohne Esr 4) liegen die historisch nahe an die Ereignisse heranreichende Aramäische Quelle (AQ) Esr 5,3–6,15 und die Personenliste Esr 2,2b–62 zugrunde. Beide »Quellen« werden durch die sogenannten Verfasserabschnitte (Esr 1,1–2,1a; 2,63–5,2; 6,7a.14b–c.16–18) zusammengestellt, die anders als die älteren Texte die Perspektive der babylonischen Diaspora einnehmen (121).
3. Die Esraerzählung Esr 7–10; Neh 8 ist überbietend von den Verfasserabschnitten in Esr 1–6 abhängig (vor allem im Artaxerxes-Edikt) und hat in Esr 10 eine ältere Erzählung verarbeitet, indem sie sie mit V. 4–6.10 f. auf Esra bezogen hat. Die Esraerzählung ist im Aufbau dreiteilig: Esr 7.8, Esr 9.10 und Neh 8, das mit der Verlesung der Tora den Höhepunkt bildet, nachdem in Esr 9.10 am Beispiel der Mischehenscheidung »die paradigmatische Überwindung des nicht torakonformen Lebens im Mutterland« (143) erzählt wurde.
4. Die Ich-Berichte des Nehemia in Neh 1–7,5b; [11,1 f.]; 12,27–43; 13,4–31 gehen auf Nehemia zurück, der sie als Rechenschaftsberichte verfasste und dabei die Mauerbauliste Neh 3,1–32 integrierte. Neh 13,3–31 ist ein späterer Zusatz zum ersten Rechenschaftsbericht, der die Errichtung der Stadtmauer und zentral den Schuldenerlass in Neh 5 umfasste, während Neh 11,1.2 eine späte Überleitung zu den Listen in Neh 11 darstellt, die dem Esra/Nehemiabuch noch hinzugefügt wurden.
5. Später als die Buch-Redaktion sind vor allem die Texte in Neh 9–12*, wobei Neh 1,5–11c und Neh 9.10 die sogenannte Tora-Bund-Redaktion bilden.
Dieser literargeschichtliche Entwurf ist durch viele Textbeobachtungen überzeugend begründet, wird in eine gute relative und absolute Chronologie überführt und zeichnet sich durch seine Vollständigkeit aus. Kritisch sind m. E. vor allem zwei Momente anzufragen:
Ich bezweifle, dass die Differenzen und Spannungen zwischen Esr 1–6 und der Esraerzählung ausreichen, um sie als eigenständige Überlieferungen zu qualifizieren. Denn die in der Analyse von Esr 7–10 und Neh 8 gemachten Beobachtungen zu den Gemeinsamkeiten mit Esr 1–6 scheinen bei der literarkritischen Entscheidung kaum berücksichtigt zu sein.
Gegen die postulierte Zusammengehörigkeit von Neh 8 und Esr 7–10 in einem Überlieferungsblock wäre zu prüfen, ob Neh 8 nicht mit Neh 9.10 einer späteren Überarbeitung angehört. Denn zu Recht wird festgestellt, dass die Mission Esras insgesamt vage bleibt. In der Erzählung Esr 7.8 wird zudem von keiner mitgebrachten Torarolle erzählt. Vor allem aber wäre zu erklären, warum Neh 8 von Esr 7–10 abgetrennt und an seinen jetzigen Ort gesetzt wurde.
Der zweite Hauptteil widmet sich der ethnisch-religiösen Identitätsbildung im nachexilischen Juda. Hierfür verwendet der Vf. die aus den Kulturwissenschaften stammenden Kategorien der Ethnizität, Identität, Grenzziehung und Diaspora. Ganz richtig sieht er die Kriterien zur Bestimmung eines Ethnos nicht als objektiv, sondern als situationsabhängig an, die in Aushandlungsprozessen von In- und Exklusion je neu zu bestimmen sind. Als wichtige Kriterien werden Abstammung, Endogamie, Sprache, Religion und Geburt an einem bestimmen Ort genannt. Der Vf. räumt dem Kriterium der Religion eine besondere Bedeutung ein, denn gerade in Ritualen werden Zugehörigkeiten ebenso wie die eigene Geschichte und Tradition sichtbar gemacht. Dabei bestimmt er die untersuchten Gruppen völlig zu Recht als ethnische Gruppen mit einer »ausgeprägten religiösen Identität« (267). Der Begriff »ethnische Religion« scheint mir dagegen missverständlich, wenngleich die Zugehörigkeit zu Ethnos und Religion nicht selbstverständlich deckungsgleich ist und gerade die Bildung von antiken religiösen Vereinigungen durch Migration und Diasporen begünstigt wird.
Der Vf. untersucht im ersten Schritt den im Esra/Nehemiabuch historisch greifbaren Einfluss der babylonischen Diaspora auf das Mutterland. Bis Mitte des 5. Jh.s v. Chr. sei kaum ein Einfluss nachweisbar. Dann rechnet er mit einem Einfluss der Diaspora, nicht aber mit einer großen Zahl an Rückkehrern. Die wesentliche Einflussnahme sei durch die beiden Protagonisten Nehemia und Esra (in dieser historischen Reihenfolge) geschehen. Nehemia habe im Rahmen seiner politischen Aktionen als Statthalter (Wiederbefestigung der Stadt) versucht, in Juda eine strikte Endogamie und Sabbatobservanz durchzusetzen, die zentrale Kriterien des Selbstverständnisses der Diasporagruppe darstellen. Ob diese Maßnahmen für das Urteil des Vf.s, Nehemia habe eine rigoristische Abgren zung gegenüber den Nachbarländern betrieben, ausreicht, er­scheint jedoch fraglich. Esra musste sich um 398 v. Chr. nochmals mit der Mischehenproblematik befassen und vertrat – so der Vf. – eine noch striktere Haltung. Esras wesentlicher Beitrag zur Identität in Juda bestehe jedoch in der Durchsetzung der Tora.
In einem zweiten Schritt werden als die drei zentralen Aspekte der Identität der judäischen Bevölkerung Tora und Bund (in der Fortschreibung Neh 9.10), Genealogie und Zugehörigkeit zu Israel und schließlich Tempel und Kult eingehend und überzeugend untersucht. Sehr instruktiv sind zudem einzelne Ausführungen, etwa zur Bezeichnung Jehudim (296), zur Bezeichnung »Söhne der Gola« (330) oder zur Entwicklung der nachexilischen Bundestheologie (347–363).
Der zweite Hauptabschnitt überzeugt durch seinen Ansatz bei der Ethnizität und Diaspora. Der Vf. sieht zu Recht die Einflussnahmen der Diaspora auf das Mutterland als zentral an. Einzelne Beobachtungen könnten freilich anders gewichtet werden. So ist zu fragen, warum nicht auch die Stadt Jerusalem eine identitätsstiftende Größe (für die Diaspora) darstellt (Neh 1–7). Für die Spendentätigkeit wird nicht gefragt, warum sie in Esr 1–6 und Esr 7–10 mit der Diaspora verbunden wurde. Zwischen Endogamie und Genealogie wäre m. E. noch deutlicher zu trennen, für die Endogamieforderung ein größerer soziologischer Rahmen zu erarbeiten. Ich würde die Tora in dieser Zeit noch nicht als kanonischen Text (unter Anwendung der Kriterien von Assmann), wohl aber als autoritativen Text bezeichnen. Für die nachexilische Zeit geht der Vf. zu Recht davon aus, dass die Grenzen einer ethnischen Identität kaum überschritten werden. Er deutet aber eine Entwicklung von einer ethnischen Identität mit starkem religiösen Kriterium hin zu einer eigenständigen religiösen Identität an. Voraussetzung hierfür sei die Vorstellung eines Bundes, dem man beitreten kann und der so auch Nicht-Judäern das Bekenntnis zum Gott Israels eröffnet. Diese Situation sei in Neh 10,29 gegeben, dem Vers, der titelgebend für die Studie ist.