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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1081–1083

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kupfer, Christian Daniel

Titel/Untertitel:

Mit Israel auf dem Weg durch die Wüste. Eine leserorientierte Exegese der Rebellionstexte in Exodus 15:22–17:7 und Numeri 11:1–20:13.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2011. IX, 290 S. = Oudtestamentische Studiën, 61. Lw. EUR 97,00. ISBN 978-90-04-20919-0.

Rezensent:

Helmut Utzschneider

Die Monographie geht auf eine durch Cornelis Houtman betreute, bereits 2000 abgeschlossene Dissertation an der Theologischen Universität Kampen zurück. Sie wurde für den Druck überarbei-tet.
Christian Kupfer beginnt mit Goethe. Dessen berühmte Einschätzung der vier letzten Bücher Mose als »eine höchst traurige, unbegreifliche Redaktion« (Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des Westöstlichen Divans; 1) bringt K. auf den (auf H. Schweizer zurückgehenden) Begriff der »Lesestörung«, die sich grosso modo auf zwei Wegen beheben lasse: dem diachronen und dem synchronen. Auf den letzteren begibt K. sich und führt dabei seine Leser in fünf Etappen zum Ziel. Im ersten Kapitel entwickelt K. seine vor allem von Moisés Mayordomo-Marín beeinflusste Theorie und Methodik einer »leserorientierten Exegese«. In den zentralen und umfangreichsten Kapiteln 2 und 3 legt er die vor- bzw. nachsinaitischen Wüstenerzählungen, genauer gesagt, die »Rebellionstexte« (Ex 15,22–27; Ex 16; 17,1–7; Num 11–14; 16 f.; 20) nach dieser Methodik aus. Im vierten Kapitel stellt er die wichtigsten Instrumente der »Steuerung des Lesers« zusammen, die sich in der Exegese erschlossen haben. Im fünften und letzten Kapitel werden die Wüstenerzählungen im Kontext der Bücher Exodus und Nu­meri verortet.
Exegetische Arbeiten, die sich auf die Rezeptionsästhetik des ausgehenden 20. Jh.s berufen, sind inzwischen keine Seltenheit mehr. K.s Monographie freilich ist meines Wissens die erste, die mit dieser Methodik einen größeren Textzusammenhang im Stil eines fortlaufenden Kommentars auslegt. Insofern hat K. ein durchaus verdienstvolles Experiment gewagt.
Im ersten Kapitel stellt K. komprimiert die Leitideen der Rezeptionsästhetik und deren (auch kritische) Aufnahme dar, die sie in den Literaturwissenschaften wie in der biblischen Exegese gefunden haben. Dabei gelingen K. informative Darstellungen, etwa darüber, was eine »Leerstelle« ist (16–23). K.s »Sympathie« liegt aufseiten einer Rezeptionsästhetik, bei der, im Sinne des späten Umberto Eco, »die Initiative des Lesers […] auf einen virtuellen Punkt [zielt], an dem die Suche nach der intentio auctoris und die nach der intentio operis zusammenfallen.« (23) K. führt dazu den »kooperierenden Leser« ein, der, »mit einem hohen Grad an Kompetenz ausgestattet«, bestrebt ist, »eine kohärente Lektüre zu erzielen« (34). Die Frage muss erlaubt sein, wie viel Raum bei einer solchen, »weitestgehend textgelenkte[n] Lesart« (ebd.) noch von den ursprünglichen Impulsen der Rezeptionsästhetik übrigbleibt, d. h., ob und wie sich die »Dialektik zwischen Determiniertheit und Freiheit im Verhältnis zum Text« (23) noch entfalten kann. Etwas unvermittelt lässt K. in seinen Ansatz auch noch eine weitere Kategorie einfließen, die der Narratologie (vgl. 35), zu der sich im Theoriekapitel wenig Bezugspunkte finden. Insgesamt grenzt K. seinen Ansatz so ein: »Die Genese des Textes und der von ihm rezipierten Vorstufen wird genauso ausgeblendet wie eine Reflektion [sic!] seiner außertextlichen Referenz, Intention und theologischen Relevanz. Untersucht wird lediglich, wie der vorliegende Text erzählerisch funktionieren kann, wenn ein mit gewissen Kompetenzen ausgestatteter Leser mit ihm kooperiert.« (35)
Sowohl die rezeptionsästhetische wie auch die narratologische Schlüssigkeit von K.s Ansatz entscheiden sich zunächst an dessen methodischer Operationalisierung und letztlich an der Auslegung des Textes. Seine Methodik komprimiert K. (vgl. vor allem 37 f.) in sieben Fragen, die m. E. ein sowohl narratologisch wie rezeptionsästhetisch brauchbares Instrumentarium bereitstellen. Grundlegend ist, dass sein Verfahren sequentiell dem Leseprozess folgt. D. h., Textbefunde werden nicht unter grammatischen oder textlinguistischen Systemgesichtspunkten dargestellt, vielmehr fragt und notiert K. fortlaufend, wie sich »Form und Inhalt des Textes zu diesem Zeitpunkt [scil. der jeweiligen Lektüre, H. U.] auswirken können« (36). Im Einzelnen ist dabei auf stilistische Aufmerksamkeitserreger, Erzähltempo und -perspektiven, Segmentierungen, Gattungsmuster sowie Rück- und Vorverweise zu achten. Dies sind durchaus gängige textanalytische und narratologische Kriterien. Im eigentlichen Sinne rezeptionsästhetisch, d. h. die Mitarbeit des Lesers an der Bedeutungskonstitution betreffend, sind zwei Ge­sichtspunkte: Der erste fragt nach Leerstellen und (möglichen) Hypothesen, mit denen Leser diese auffüllen und den Text dergestalt »kohärent« machen. Der zweite erhebt meinungsbildende Leserlenkungen.
Methodisch so aufgestellt, geht K. an die leserorientierte Auslegung der genannten Texte, die nach einem gleichbleibenden Schema aufgebaut ist. Auf eine Gliederung der jeweiligen Perikopen folgt ein kurzer, mit »Lesestörungen« überschriebener Abschnitt, in dem K. meist klassische literarkritische Fragen notiert. Die eigentliche Auslegung ist dann in kurzen Sinnabschnitten angelegt, an die sich eine Zusammenfassung anschließt.
Die Auslegung selbst stellt sich als eine Folge von Hypothesen des Exegeten K. über den Leseprozess seines »kooperierenden Le­sers« dar. Aufgrund der unter den Kriterien genannten Textsignale »erfährt« oder »erwartet« dieser Leser dieses oder jenes, er kann es »nachvollziehen« oder »erinnern« oder »ihm verbleibt Zeit« (Zitate: 78–80). Als Leser des biblischen Textes und der Leserhypothesen K.s fühlt sich der Rezensent immer wieder zu der Überlegung herausgefordert, ob er seinerseits »kooperieren« kann oder eher nicht. Ob der Leser in der unvermittelten und explizit nicht weiter erklärten Ankunft der Israeliten in der Palmenoase Elim (15,27) wirklich »Jahwes gnädiges Geleit« […] »erkennt« (54, kursiv H. U.) oder der Vers zeigen soll, dass »Gott auch in der Wüste ein Paradies schaffen kann« (Benno Jacob), ist m. E. offen und kann es bleiben. Ob, um ein anderes Beispiel zu nehmen, nur der Leser kooperiert, der »angesichts des tiefgreifenden Unglaubens Israels« in Num 11,20 »er­schrickt« (103, kursiv H. U.), und nicht auch der, der diesen Unglauben nach allem, was vorausgeht, erwartet, ist wohl ebenso wenig entscheidbar wie entscheidungsbedürftig. Wo K. für seinen kooperierenden Leser, grundsätzlich durchaus im Sinne der Rezeptionsästhetik, Bedeutungshypothesen aufstellt, schließt er andere kurzerhand aus, so etwa zu Num 12,16 f. »Da Israel gerade nicht an Hunger (contra Wellhausen) leidet, sondern an seiner mangelnden Bereitschaft, sich Jahwe anzuvertrauen […]« (114).
K. hat m. E. die Tendenz, den kooperierenden Leser zu einer In­stanz nicht nur einer, sondern der kohärenten Lektüre zu ma­chen, und zwar auch dann, wenn mehrfache Deutungen nicht nur möglich, sondern naheliegend sind. Nach Meinung des Rezensenten könnten und sollten rezeptionsästhetisch gesehen die »Grenzen der Interpretation« (Eco) durchaus weiter gezogen werden, als es K.s kooperierender Leser und dessen Deutungen erkennen lassen. Dazu wären auch Rückgriffe auf die Rezeptionsgeschichte erhellend.
Kurz: K.s. leserorientierte Auslegung der »Rebellionstexte« ist ein wichtiger und lesenswerter Ansatz. Die rezeptionsästhetische Auslegung biblischer Texte bleibt aber darüber hinaus methodisch und inhaltlich noch ausbaufähig.