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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1077–1079

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Cohn, Naftali S.

Titel/Untertitel:

The Memory of the Temple and the Making of the Rabbis.

Verlag:

Philadelphia: University of Pennsylvania Press 2012. XII, 241 S. m. 5 Abb. = Divinations: Rereading Late Ancient Religion. Geb. US$ 69,95. ISBN 978-0-8122-4457-1.

Rezensent:

Catherine Hezser

Die Frage, warum die Mischna so viele Texte enthält, die sich auf den Tempel vor seiner Zerstörung durch die Römer beziehen, hat Historiker des antiken Judentums schon seit Langem beschäftigt und ist bisher nur unzureichend beantwortet worden. Naftali S. Cohn bietet eine neue Lösung an, die sowohl argumentativ als auch analytisch aus dem Studium der sogenannten Tempelerzählungen der Mischna gewonnen wird: »[…] in writing or talking about the Temple and its rituals, the rabbis who created the Mishnah were arguing for their own authority over post-destruction Judaean law and ritual practice. They were asserting that their own tradition was correct and that all Judaeans should follow their dictates« (3). Die rabbinische Erfindung (»Invention«, 39) der Vergangenheit und Verknüpfung mit der eigenen Situation diente also der Fundierung und Legitimierung rabbinischer Autoritätsansprüche. Der Tempel blieb ein zentraler Aspekt rabbinischer Reflexion, weil er für die rabbinische Identitätsbildung in Abgrenzung von anderen jüdischen Gruppen sowie von Christen und Römern benutzt werden konnte. Mit Maurice Halbwachs werden die Tempelerzählungen als Teil der rabbinischen kollektiven Erinnerung (»collective mem­ory«) verstanden: Die Rabbinen beriefen sich auf den Tempeldienst, um letztendlich »a Judaean society remade in their own image« (15) zu propagieren.
Man mag aufgrund dieser Einleitung bereits zwei Fragen stellen: 1. Können die Tempeltraditionen als repräsentativ für die Auffassung der gesamten rabbinischen Bewegung der ersten zwei Jahrhunderte angesehen werden oder reflektieren sie die Ansichten priesterlicher Rabbinen bzw. der Redaktoren der Mischna, die diese Erzählungen in die Mischna aufgenommen haben? 2. Wenn die Mischna dem internen rabbinischen Diskurs diente, wie gemeinhin angenommen wird, warum brauchte man dann die Tempelerzählungen, um rabbinische Autorität zu begründen? Eine solche Funktion würde eher von einer apologetischen Schrift, die das rabbinische Judentum gegenüber anderen jüdischen Richtungen oder dem Christentum verteidigt, erwartet werden.
Die ersten beiden Kapitel argumentieren größtenteils auf der Basis von Ergebnissen, die bereits in Büchern und Artikeln anderer Forscher vorliegen. So werden im ersten Kapitel (»Rabbis as Jurists of Judaean Ritual Law and Competing Claims for Authority«) Jill Harries’ Untersuchungen zu Rabbinen als »arbitrators« im Kontext der römischen Provinzialjustiz, meine eigenen Vergleiche von rabbinischen und römischen Fallgeschichten sowie Beth Berkowitz’ Hinweis auf rabbinische Imitation (»mimicry«) römischer kultureller Praktiken aufgegriffen und verschmolzen. C.s Argument, dass die rabbinischen Tradenten der Fallgeschichten versuchten, römische juristische Praktiken zu imitieren (die Fallgeschichten »depict the rabbis functioning with respect to Torah as Roman jurists function with respect to Roman law«, 20), klingt überzeugend, ebenso die Teilnahme an einem »shared cultural universe« (36), ist aber auch nicht völlig neu.
Die Unterordnung fast aller halakhischer Themen der Mischna unter »ritual law« (siehe auch Appendix B) scheint hauptsächlich dem Argument einer Kontinuität zum Tempelritual zu dienen. Die Rabbinen verbanden auch einen angeblich erfundenen großen Gerichtshof oder Sanhedrin mit dem Tempel und gaben damit ihren Vorgängern, den Ältesten dieses Gerichtshofs, eine zentrale Funktion in der Kontrolle des Tempelrituals und seiner priesterlichen Funktionäre, »creating a past for themselves that authorizes their own real or desired role« (56).
Im dritten und vierten Kapitel werden die Tempelerzählungen der Mischna näher untersucht. C. zufolge weist bereits die Existenz dieser Texte auf den rabbinischen Wunsch nach Kontrolle über vergangene und zeitgenössische religiöse Rituale hin. Durch die literarischen Aspekte der Plausibilität, Wiederholung und Kohärenz sowie die inhaltliche Verdrängung der Priester durch Älteste und Rabbinen wird die rabbinische Version des traditionellen Ritual­systems legitimiert: »The narratives presume that Temple rituals were practiced according to the rabbinic system« (72). Indem der große Gerichtshof in den Mittelpunkt gestellt wird, behaupten die Rabbinen ihre eigene zentrale Stellung innerhalb der jüdischen Gesellschaft ihrer Zeit. Diese idealisierte und rabbinisierte Darstellung der Vergangenheit diente der Fundierung eigener Machtansprüche gegenüber konkurrierenden, sich auf den Tempel berufenden Gruppen.
Diese konkurrierenden Tempeldiskurse werden im fünften und letzten Kapitel untersucht (»The Mishnah in the Context of a Wider Judaean, Christian, and Roman Temple Discourse«). Dabei wird zunächst behauptet, dass der Tempel im Judentum auch nach seiner Zerstörung wichtig blieb, zumindest innerhalb traditionell orientierter Gruppen. Allerdings gibt es nur für die Zeit bis zum Bar-Kohkba-Aufstand unterstützendes Quellenmaterial (Josephus, Bar-Kokhba-Texte, Apokalyptik). C. weist zu Recht darauf hin, dass der Tempel als »symbol of Judaea itself« auch politische Bedeutung hatte. Diese politische Bedeutung war aber an nationale Souveränität gebunden, die nach 70 und besonders nach 135 endgültig verloren war. Insofern ist fraglich, ob auch im späten 2. und 3. Jh. die Hoffnung auf die Wiedererrichtung des Tempels im nicht-pries­terlichen Judentum noch akut war. Die rabbinische Berufung auf den Tempel muss aber sicher im Zusammenhang mit christlichen Überlegenheitsansprüchen und römischen Oberhoheitsansprüchen verstanden werden, wie C. richtig betont. Die Redaktoren der Mischna werden die Tempelerzählungen aufgenommen haben, um die rabbinische Kontinuität und Überbietung des Tempel­dienstes darzustellen, während Christen und Römer die Zerstörung des Tempels benutzten, um die politische Unterwerfung und religiöse Unterlegenheit des Judentums auszudrücken.
Am Ende bleibt unklar, »to what extent the early rabbis’ memory of the Temple may have facilitated their consolidation of rabbinic power« (122). Es wäre interessant zu sehen, inwieweit der tannai­tische Tempeldiskurs in amoräischer Zeit aufgegriffen und verändert worden ist. Dazu müssten die Kommentierungen der tannaitischen Tempelerzählungen im palästinischen Talmud untersucht und midraschische Texte zum Tempel analysiert werden.
Diese ideologiekritische Untersuchung zur Bedeutung des Tem­peldiskurses in der Mishnah ist allen denjenigen zu empfehlen, die sich für das Judentum und Christentum der ersten Jahrhunderte sowie für römische Provinzialgeschichte interessieren. Das Buch ist sehr klar und auch für Laien verstehbar geschrieben. Zwei Anhänge (eine Liste der Tempelerzählungen und eine Liste der Fallerzählungen) können zum eigenen Studium der Texte an­regen.