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Ausgabe:

Oktober/2013

Spalte:

1075–1077

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bedenbender, Andreas [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Judäo-Christentum. Die ge­meinsame Wurzel von rabbinischem Judentum und früher Kirche.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012. 196 S. Kart. EUR 24,90. ISBN 978-3-89710-469-3 (Bonifatius); 978-3-374-03016-3 (Ev. Verlagsanstalt).

Rezensent:

F. Stanley Jones

Die in diesem Buch vorgelegten Beiträge gehen auf eine Interna­tionale Sommerakademie des Alfried Krupp-Wissenschaftskollegs Greifswald im Jahr 2009 zurück. Ziel der Sommerakademie war, ein sogenanntes Kontinuumsmodell, wonach es vor allem in den ersten drei Jahrhunderten eine Trennung des Christentums von dem Judentum nicht gegeben habe, auszuloten. Judäo-Christentum sei (mit und nach D. Boyarin) der ursprüngliche Kessel, aus dem das orthodoxe Christentum und das rabbinische Judentum später hervorgingen.
Nach der Einleitung des Herausgebers (7–12) untersucht Albert I. Baumgarten »Die Pharisäer und die Gräber der Propheten« (13–32). Dann folgen zwei weitere Untersuchungen zu den Pharisäern: A. Bedenbender, »Die Pharisäer sind unter uns: Zur Rolle der pharisaioi in den synoptischen Evangelien und zur Rolle der peruschim in der rabbinischen Literatur« (33–69), und Folker Siegert, »Das Pharisäerbild des Evangelisten Johannes« (70–84). Daran schließt Siegert eine zweite Studie, »Das Passa der Johanneschristen« (85–104), an. Bedenbender untersucht sodann »Die rabbinische Überlieferung von der Geburt des Messias in der Stunde der Tempelzerstörung« (105–121). Daniel Boyarin erscheint als Nächster mit zwei Beiträgen: »Sehnsucht nach dem Christentum, oder: Zurück ins Mittelalter?« (121–158) und »Secundum Fabulatores Judaeos: Über den theologischen Verkehr der Kirchenväter und der babylonischen Rabbinen in der Spätantike« (159–174). Zuletzt bringt Gesine Palmer »Von einem Bindestrich: Daniel Boyarin und das Judäo-Christentum« (175–192). Eine Liste von Abkürzungen, ein Glossar und eine Identifizierung der Autorinnen und Autoren (193–196) schließen das Buch ab. Gesine Palmer hat die ursprünglich englischen Studien von Baumgarten und Boyarin ins Deutsche übersetzt.
Nun zu den einzelnen Beiträgen der Reihe nach: Baumgarten setzt seine früheren Untersuchungen zu den Pharisäern mit dieser detaillierten Studie zu Mt 23,29–31 fort und kommt zu einer posi­-tiven historischen Auswertung des Textes. Dagegen befragt Bedenbender die ganze Kategorie ›Pharisäer‹ und untersucht die diskursive Funktion des Begriffes für »Überzeugungen, die von den jeweiligen Tradenten entweder früher selbst vertreten worden waren oder immer noch (auch) vertreten wurden« (68). Die Pha­risäer des Markusevangeliums werden vor allem als literarische Repräsentanten verschiedener Arten von Christen dargelegt.
Danach bietet F. Siegert eine Zusammenfassung seines schon breit entfalteten historischen Entwurfs zu den johanneischen Schriften, wonach der Evangelist auf ein Einvernehmen mit dem Judentum bedacht ist, dahingegen die edierte Fassung »die Bindungen für aufgelöst erklärt und in Polemik verfällt« (83). Für diese ganze Tradition verwendet Siegert den Begriff »Judenchristen« und versucht ein besonderes kleinasiatisches Judenchristentum zu umreißen, wozu Polykrates mit seinem Passafest hinzugehört (97). Jedoch beachtet dieses stark akkulturierte »Judenchristentum« keine Speisegebote, verlangt auch nicht Beschneidung von Heidenchristen (102).
Bedenbender bespricht dann die besagte rabbinische Überlieferung, die mehrmals in der neueren Forschung untersucht worden ist. Im Unterschied zu anderen findet er hier eine Geschichte »zelotischer Herkunft« (111), die die ähnlichen Motive in den Evangelien als Reaktion darauf verstehen lässt.
Danach lobt D. Boyarin die Arbeit P. Schäfers »Jesus im Talmud« kurzfristig als Fortschritt gegenüber der früheren von J. Maier, sieht aber in Schäfers Hauptthese, dass die sich unter sassanidischer Herrschaft befindenden babylonischen Rabbinen gegen die Chris­ten einen Kampf auf Leben und Tod geführt haben, eher einen Rückfall ins mittelalterliche Denken. In detaillierter Auseinandersetzung mit Schäfers Auslegungen und Ansichten legt Boyarin zugegebenermaßen »nicht sine ira« (157) sein Verständnis der talmudischen Texte als »eine nostalgische Sehnsucht nach Christen« (125) dar. – In seinem zweiten Beitrag greift Boyarin erheblich weiter aus, um die babylonischen Rabbinen aus einer vermuteten historischen Isolierung herauszulösen und ihren »eigenen Hellenismus« darzulegen (159). Hier tritt eine vollkommen andere Seite von Boyarins hervor; er verbindet neueste Einsichten aus verschiedenen und verstreuten historischen Fachgebieten (Islam, Byzantinistik, syrische Kirchengeschichte u. a.), um die Welt der Rabbinen aufzuschließen. Insbesondere will er ein exemplarisches Beispiel als »zwingenden Beweis« dafür bieten, dass es zwischen den Chris­ten und den Rabbinen eine tiefe intellektuelle und religiöse Beziehung gab. Sind auch hier einzelne Fehler zu vermerken, so ist doch die Zukunft des Studiums des Talmud in dieser Stoßrichtung deutlich zu erkennen.
Abschließend reflektiert G. Palmer, die Übersetzerin von Boyarins Buch »Abgrenzungen: Die Aufspaltung des Judäo-Christentum«, über Boyarins darin enthaltenen akademischen Versuch und vergleicht ihn u. a. mit Franz Rosenzweig.
Insgesamt bietet das Buch eine großenteils spannende und differenzierte Lektüre. Auch wenn das Kontinuumsmodell nicht durchgehend angewendet ist, so treten doch unterschiedliche As­pekte dieser allgemeineren neuen Perspektive hervor. Als Ergebnis des Alfried Krupp-Wissenschaftskollegs darf dieses Buch für vielversprechend gehalten werden.